Kein Entrinnen
beunruhigt Sie, Franklin …«
Der Professor zögerte halb überrascht, zum Teil um zu überlegen, ob das eine Frage war, zum Teil um abzuwägen, ob hinter dem Satz eine Falle stecken konnte. Dann schüttelte er den Kopf, ohne jedoch offen zu antworten. Sheridan lächelte über die Vorsicht des jungen Mannes.
»Es wird nicht lange dauern«, versprach er ihm.
Frank zeigte auf den Stapel mit Arbeiten.
»Ich habe gerade einige Textinterpretationen korrigiert. Es ist ziemlich dringend, aber ich kann natürlich eine Pause machen für … für die Polizei. Allerdings habe ich einen Kurs, der in zwanzig Minuten beginnt. Deshalb … ich höre.«
Sheridan nickte. Er holte sein Notizbuch und einen Kugelschreiber hervor.
»Ich möchte Sie um ein paar Erklärungen bitten, Professor.«
»Mich?«
Franklin hatte zuerst gedacht, dass die Polizei wegen einer Affäre des ominösen Klubs der Schreiber in der Schule auftauchte. Vielleicht war das aber gar nicht der Fall.
»Nehmen Sie bitte zur Kenntnis«, verkündete Sheridan, »dass ich hier nicht meine Uniform trage. Ich sitze vor Ihnen wegen einer Untersuchung, die ich allein durchführe. In meiner freien Zeit.«
Franklin hatte vor allem gesehen, dass der Typ vor ihm der ranghöchste und mächtigste Polizist des Staates war; und ob er nun in Uniform oder im Bademantel auftrat, war absolut zweitrangig.
»Ich habe sehr viel über die Akte eines, wie soll ich sagen, mysteriösen Falls nachgegrübelt. Und ich habe dabei beträchtliche Fortschritte gemacht. Ich brauche nun einige zusätzliche Elemente, um weiterzukommen … und dazu wollte ich Sie um Rat fragen.«
Sheridan sagte die Wahrheit. Seit mehr als zwei Monaten hatte ihn das Rätsel der vierundzwanzig Leichen von Concord keinen Tag losgelassen. Zusammen mit Amos Garcia war er in dieser endlosen Ermittlung regelrecht aufgegangen und von ihren Verwicklungen besessen. Er wusste alles über die Opfer, Indizien und Beweisstücke sowie über die Abgleiche mit den Personenregistern. Er verfolgte mehrere Spuren, hatte viele feste Annahmen und noch mehr Zweifel. Einen Tag glaubte er, etwas Neues zu erfahren und freute sich darüber, und am nächsten verlor er den Mut und war bereit, das Handtuch zu werfen. Der hartnäckige Cop, der er einmal war, wurde zum Gefangenen von Ideen, die an einem einzigen Abend entstehen und wieder vergehen konnten.
»Handelt es sich um eine Mordsache, Colonel?«
»Ja.«
Sheridans Tonfall war barsch, beinahe provozierend. Franklin versteifte sich. Wenn erst einmal das Wort »Tod« im Raum stand, war alles möglich.
»Ich verfolge im Augenblick mehrere Theorien, um dieses Rätsel aufzuklären«, sagte Sheridan. »Darunter eine, die Ihnen sicher gewagt erscheinen wird, die ich aber trotzdem mit der gebotenen Vorsicht vertiefen möchte. Und dazu brauche ich jemanden wie Sie.«
Sheridan holte ein Buch aus seiner Kartonmappe hervor. Es war Franklins Werk über die Romanschriftsteller. Die Versuchung des Schreibens oder Schriftsteller bei der Arbeit .
»Interessant. Sehr interessant«, sagte Sheridan, während er das dünne Werk in der Hand wog. »Sogar für das, womit ich mich zurzeit beschäftige.«
Franklin wollte lächeln, aber seine Kiefer und Lippen waren so versiegelt, dass es beinahe schmerzte.
»Ich kann mir schlecht vorstellen, inwiefern ein literarischer Essay einem Polizeibeamten bei seinen Ermittlungen helfen kann«, meinte er.
Sheridan schlug das Buch auf und suchte nach einer Seite, die er markiert, und einer Stelle, die er unterstrichen hatte. Er las vor:
Graf Leon Tolstoi lebte wie die Leibeigenen seines Guts, um die Lebensbedingungen der armen Teufel in seinem Land besser beschreiben zu können; Gustave Flaubert nahm eine geringe Dosis Arsen, um den Geschmack des Giftes beim Selbstmord der Bovary exakt wiederzugeben; Émile Zola scheute nicht davor zurück, die Spelunken und Kohlegruben seiner Romanfiguren zu besichtigen; Jack London und Joseph Conrad bezogen ihre Inspiration aus ihrer Jugend als Trapper und Seeleute …
Bei manchen Romanautoren findet man ein Bedürfnis nach genauer Kenntnis, nach fassbarer Wahrheit, das vor nichts zurückschreckt. Sie wollen wissen , um zu erfinden.
Und das Paradoxe an diesen großen Schriftstellern ist, dass sie zudem noch mit einer unerhörten Fantasie begabt sind. Aber sie reicht ihnen nie.«
Franklin nickte zustimmend, noch ratloser hinsichtlich des Grunds für Sheridans Besuch als zuvor. Dieser überflog etwa dreißig Seiten und hielt
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