Kein Fleisch macht gluecklich
Ebenso sind allerlei Reaktionen auf Schädigungsreize bei Tieren vorstellbar, die keine bewusste Wahrnehmung erfordern. Der Nutzen der Nozizeption ist offensichtlich, weil sie Tieren hilft, schädliche Reize zu vermeiden. Sie hat sich vermutlich schon sehr früh in der Evolution entwickelt. Entsprechend findet man sie in den meisten der großen Tierstämme. (Stämme sind zum Beispiel Nesseltiere, Ringelwürmer, Gliederfüßer, Stachelhäuter, Weichtiere und Chordatiere. Zu Letzterem gehören wir und alle anderen Wirbeltiere.) Im Detail hat man Systeme zur Nozizeption beim Fadenwurm und der Fruchtfliege beschrieben. Welchen Tieren die eingehenden Signale bewusst werden, ist bislang fraglich. Aufgrund der weiten Verbreitung von Nozizeption weist ihr Vorhandensein nicht unbedingt auf die Fähigkeit zur bewussten Schmerzwahrnehmung hin, denn viele einfache Organismen reagieren trotz Nozizeption eher automatenhaft. Somit reicht rein wissenschaftlich auch das Zappeln des Fisches nicht, um von einer subjektiven Leidenserfahrung des Fisches zu sprechen.
Schmerzen sehen
Im Unterschied zur Nozizeption, also der bloßen sensorische n Verarbeitung und Weiterleitung eines potenziell schädigenden Reizes, erfordert Schmerz nach einer gängigen Definition eine subjektive Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung kann, wie bei chronischen oder Phantomschmerzen, sogar ohne aktuellen Reiz erfolgen. Will man nachweisen, dass Tiere nicht bloß eine reflexhafte Reizreaktion zeigen und lediglich ähnliche physiologische Zustände wie bei Schmerzen haben, sondern über eine bewusste Schmerz wahrnehmung verfügen, sucht man nach bestimmten Verhaltensweisen: Sie sollten die Schmerzerfahrung im Gedächtnis behalten, für die Zukunft daraus lernen und mit anderen Motivat ionen vergleichen und bewerten können. Ein schnelles Erlernen von Meideverhalten, ein länger anhaltendes Erinnerungsvermögen sowie die Fähigkeit zur Abwägung zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen sind also gute Hinweise darauf, dass sich bei schädigenden Reizen im Tiergehirn bewusst etwas abspielt. Verhaltensbeobachtung eignet sich daher am ehesten als Nachweis für Schmerzerfahrungen.
Anglerlatein
Ein meist von Anglern vorgebrachtes Argument gegen die Schmerzempfindung bei Fischen ist die Beobachtung, dass die Tiere wiederholt in den gleichen hakenbewehrten Köder beißen oder vehement am schmerzhaften Haken ziehen. Das sagt aber weniger über die tatsächliche Empfindung aus als eher etwas über die Stärke eines Fress- bzw. Fluchttriebes oder die Intelligenz von Fischen – zumindest über deren Fähigkeit, angemessen auf ungewöhnliche Situationen zu reagieren. Einige Fische können zwar lernen, Angelköder zu meiden, die meisten Fische sind jedoch vermutlich keine aufs Lernen spezialisierten Tiere und haben in ihrer langen Evolution erst seit viel zu kurzer Zeit mit Haken und Blinkern zu tun gehabt, als dass sie sich ein entsprechendes Meideverhalten genetisch hätten aneignen können. Abgesehen davon: Wer von uns macht trotz unserer Superhirne (mit 11,5 Milliarden Nervenzellen in der Großhirnrinde) nicht ebenfalls einige schmerzhafte Fehler immer wieder? Und was das Ziehen am Haken trotz etlicher Nozizeptoren in der Mundregion betrifft: Auch beim Menschen gibt es Situationen, in denen, gerade aufgrund des erheblichen Stresses, die akute Schmerzwahrnehmung durch körpereigene Opioide blockiert ist – etwa wenn Bergsteiger mit gebrochenen Beinen noch laufen können oder stark verwundete Soldaten weiterkämpfen. Das Gehirn ist nämlich nicht allein ein Schmerzempfänger, es steuert auch aktiv, ob die Schmerzreize weitergeleitet und wie sie im Gehirn verarbeitet werden – dass Schmerz bei Menschen nicht nur situationsbedingt, sondern zudem kulturell ganz unterschiedlich wahrgenommen wird, ist ja hinlänglich bekannt.
Wer ist hier eigentlich der tolle Hecht?
Schmerzhafter Vorteil
Um das Vorhandensein einer psychologischen Dimension des Schmerzreizes bei nicht menschlichen Lebewesen zu untermauern, gibt es neben den bereits genannten wie Erinnerung, Lernen und Abwägen gegen andere Bedürfnisse noch ein weiteres entscheidendes Kriterium. Die Fähigkeit einer bewussten Schmerzempfindung sollte dem Organismus von Nutzen sein. Bewusste Schmerzen dürften vermutlich einen guten Langzeitschutz vor Gefahren und Verletzungen bieten, indem sie einem Tier helfen, sich an eine unangenehme Situation zu erinnern, die es fortan meidet. Dazu muss ein Tier zwischen Situationen und
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