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Kein Freibier für Matzbach

Kein Freibier für Matzbach

Titel: Kein Freibier für Matzbach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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später nutzlos vergeudet werden soll, zunächst einmal sinnvoll sammeln.«
    Am Morgen regnete es. Von zunehmendem Gesprächslärm und Kaffeeschwaden geweckt, erschienen nach und nach alle Schläfer, von kurzen oder längeren Duschdurchläufen ermuntert, in der Küche. Dort standen Brot, Käse, Wurst, Butter und sämtliche weiteren Zutaten für ein Frühstück zur Selbstbedienung bereit. Auf der überdachten Veranda saßen bereits Rapunzel, Hermine, Dany und Zaches, als Matzbach eintraf. Yü, den er unter der Dusche wähnte, weilte tatsächlich in einer Badewanne.
    Rapunzel sah fünf Jahre jünger und drei Punkte gesünder aus als vor ein paar Tagen. Der Ton zwischen ihr und Zaches war heilsam herzlos, unsentimental, spöttisch verspielt. Wahrscheinlich, dachte Matzbach, genau das Richtige: Azraels Rappe war gesattelt, die Frau hatte schon einen Fuß in den schwarzen Steigbügel gestellt, und ehe sie den Abschiedstrunk bis zur Neige würde leeren müssen, reichte ihr noch einmal jemand lächelnd einen helleren Kelch.
    Niemand hatte besonders viel geschlafen; der leichte Regen auf dem Dach der Veranda trommelte nicht zum Reisen, nach kurzem Auflodern brannten die Gespräche nieder. Dany und Yü waren die ersten, die sich zu einer Vormittagssiesta zurückzogen, dann Rapunzel und Zaches. Hermine blinzelte in den Regen hinaus, schien die aufstrebenden Unkräuter im Garten zu zählen und gähnte. Matzbach sog an der Panetela, die kaum halb geraucht war.
    »Ach ja«, sagte er. »Gewähr mir noch einige Züge an diesem symbolhaften Objekt. Und einen halben Becher Kaffee.«
    »Bewilligt. Hast du irgendwas vor, dieses Wochenende?«
    »Ich muß zwischendurch mal ein paar Stunden Hausaufgaben machen – Papiere wälzen, Gedanken denken, vielleicht dein Telefon mißbrauchen. Ansonsten gedachte ich mit deiner Billigung und Hilfe den schweren Stein der Muße bergauf zu schieben und im geeigneten Moment loszulassen.«
    Sie kicherte. »Sisyphus Matzbach verrollt Metaphern. Ganz so müde kannst du eigentlich nicht sein.«
    Er leerte den Becher, nahm einen letzten Mundvoll Rauch und legte die Zigarre weg. »Wolltest du mir deine Briefmarkensammlung zeigen?«
    Sie stand auf. »Ikonen«, sagte sie. »Außerdem Nischen, Vorsprünge und Euphemismen.«
    Nachmittags ließ der Regen nach. Als die anderen zu einem Spaziergang durch die nassen Äcker und Gebüsche aufbrechen wollten, bezeichnete Matzbach das als »Suchtverhalten«, verweigerte eine genauere Erklärung sowie seine Teilnahme und holte Neumanns Papierwust aus dem Kofferraum des Rover. Mit Kaffee, Zigarren und Notizpapier setzte er sich auf die Veranda und begann zu wühlen. Er fühlte sich wie ein Trüffelschwein, das nicht sicher sein kann, ob unter den Hasenkötteln und dem für hinterlistige Zwecke genutzten alten Notgeld im Boden lohnende Objekte schlummern.
    Es wurde teilweise zu einer Zeitreise. Zwischen 1957 und 1961 hatte er Kernphysik und Philosophie studiert – einerseits auf der Suche nach dem nicht mehr zu unterteilenden Atom des Wissens, dem letzten Grund, andererseits fasziniert von der Spaltbarkeit des »Unteilbaren« im Kern der Materie. Er begriff sehr schnell, daß der Ansatz naiv war, daß ihn die Kernphysik dem Herzen der Sonne nur unwesentlich näher brachte als das Studium der Philosophie dem Denken, nämlich fast gar nicht. Der Lotteriegewinn mittels eines aus der Tageszeitung entnommenen und spaßeshalber ausgefüllten Lottozettels enthob ihn der Notwendigkeit, sich um nutzlose Dinge zu kümmern, und brachte ihm die Freiheit, sinnvoll zu spielen. Aber die alten albernen Gespenster hockten nun hinter ihm auf dem Sims des Küchenfensters und kicherten: Namen vergessener Kommilitonen; Stichworte, die ganze Vorlesungsserien erschlossen; Notizen von Carlo über künftige Seminare, die Matzbach – wenn es dessen bedurft hätte – endgültig zur vor Jahrzehnten von einem Autor formulierten Meinung gebracht haben würden, daß Religion und Metaphysik Subgenres der phantastischen Literatur sind. Er ging die von Carlo erstellte Liste der im Todesfall zu Benachrichtigenden durch; neben einer Mehrzahl Unbekannter fand er dort einige alte Freunde, etliche alte Feinde und viele alte Laue. Die meisten Namen tauchten in den dicken Bündeln Kondolenzpost wieder auf. Ein Umschlag war dabei, der sein Mißfallen erregte, dann seine Skepsis und schließlich seine Heiterkeit. Er verglich noch einmal Carlos Projektnotizen und einige (der Genosse Professor war durchaus nicht

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