Kein Friede den Toten
sie die Wahrheit. Kimmy war so weit unten, dass sie einfach nicht mehr erwähnt wurde.
Olivia war wie gelähmt.
Entgegen aller Erwartung war es nicht schwer, in diesem Geschäft Freundschaften zu schließen. Die meisten Mädchen mochten einander wirklich. Wie Kumpel in der Army verbündeten sie sich und versuchten gemeinsam zu überleben. Aber Kimmy war einzigartig gewesen. Sie war ihre engste Freundin gewesen und die Einzige, die sie noch vermisste, an die sie immer mal wieder dachte und mit der sie sich gerne einmal unterhalten hätte. Kimmy hatte sie zum Lachen gebracht. Kimmy hatte sie vom Kokain ferngehalten. Kimmy hatte sogar die Pistole im Wohnwagen versteckt, die Olivia das Leben gerettet hatte.
Olivia lächelte im Dunkeln. Kimmy Dale, die ausgeflippte Abstinenzlerin, mit der sie zeitweilig zusammen aufgetreten war. Ihre alte Freundin.
Und dann übermannten Schuld und Trauer sie von neuem.
Kimmy waren die letzten Jahre nicht gut bekommen, aber welche Jahre taten das schon. Ihre Haut war welk geworden.
Sie hatte Falten um Augen und Mund. An den Schenkeln hatte sie blaue Flecken. Sie hatte zu viel Make-up aufgelegt wie die alten Matronen früher, die den richtigen Zeitpunkt zum Absprung verpasst hatten. Das war ihre größte Angst gewesen: eine der alten Matronen zu werden, die nicht merkten, dass sie in diesem Geschäft nichts mehr verloren hatten.
Kimmys Tanznummer hatte sich nicht verändert – sie machte noch die gleichen Schritte, bewegte sich insgesamt etwas langsamer, lethargischer. Sie trug auch noch die hohen, schwarzen Stiefel, die sie früher schon geschätzt hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Kimmy das Publikum besser in Fahrt gebracht hatte als jede andere – sie hatte ein mitreißendes Lächeln gehabt –, aber sie posierte nicht mehr so wie früher. Olivia blieb hinten im Schatten sitzen.
Kimmy glaubt, dass ich tot bin.
Wie, fragte sie sich, würde Kimmy reagieren, wenn sie diesem … diesem Geist begegnete? Olivia überlegte, was sie tun sollte. Sollte sie sich zeigen – oder einfach hier sitzen bleiben, eine halbe Stunde warten und verschwinden, wenn sie sicher war, dass Kimmy sie nicht sah?
Sie blieb sitzen, beobachtete ihre Freundin und dachte über ihren nächsten Schritt nach. Er ergab sich praktisch von selbst. Es würde sowieso alles herauskommen. Der Pakt mit Emma war beendet. Yates und Dollinger wussten, wer sie war. Sie hatte keinen Grund mehr sich zu verstecken. Es gab niemanden mehr, den sie schützen musste, und vielleicht – nur ganz vielleicht – konnte sie noch jemanden retten.
Als Kimmy auf allen drei Positionen getanzt hatte und wieder von der Bühne ging, winkte Olivia die Kellnerin heran.
»Die Tänzerin rechts«, sagte Olivia.
»Die Schwarze?«
»Ja.«
»Wir nennen sie Magic.«
»Okay, gut. Ich möchte sie in einer Privatvorstellung sehen.«
Die Kellnerin zog eine Augenbraue hoch. »Sie meinen hinten?«
»Genau. In einem Zimmer.«
»Das macht fünfzig Dollar.«
»Kein Problem«, sagte Olivia. Sie hatte am Geldautomaten in Elizabeth Bargeld geholt. Sie gab der Kellnerin noch zehn Dollar Trinkgeld.
Die Kellnerin stopfte sich den Schein ins Dekolleté und lächelte. »Gehen Sie nach hinten und dann rechts rum. Die zweite Tür. Da steht ein B drauf. Ich schicke Magic in fünf Minuten zu Ihnen.«
Es dauerte länger. Im Zimmer standen eine Couch und ein Bett. Olivia setzte sich nicht. Sie wartete im Stehen. Sie zitterte. Leute gingen an der Tür vorbei. Über die Anlage verkündeten Tears for Fears, dass alle die Welt regieren wollten: Everybody Wants to Rule the World. Da war wohl was dran.
Es klopfte.
»Herein.«
Die Tür wurde geöffnet. Kimmy trat ein. »Okay, ich sag Ihnen erst mal, was das kostet …«
Sie brach ab.
Ein paar Sekunden standen beide einfach nur da und ließen ihren Tränen freien Lauf. Kimmy schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das ist doch …«
Candi – nicht Olivia – nickte schließlich. »Ich bin’s.«
»Aber …«
Kimmy legte die Hand auf den Mund und begann zu schluchzen. Candi breitete die Arme aus. Kimmy wäre fast zusammengebrochen. Candi packte sie und hielt sie fest.
»Alles okay«, sagte sie leise.
»Es kann nicht …«
»Alles in Ordnung«, sagte sie und streichelte ihrer Freundin übers Haar. »Ich bin’s. Ich bin wieder da.«
52
Loren flog über Houston nach Reno.
Sie hatte sich das Ticket von ihrem eigenen Geld gekauft. Sie ging ein großes Risiko ein – sie konnte ihren Job
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