Kein Friede den Toten
unvermittelt in eine andere Welt. Die Veränderung fand schlagartig statt. Er kam durch Maplewood, Milburn, Short Hills und schließlich nach Livingston. Wieder dachte Matt über Entfernungen nach, über Geographie und diesen schmalsten aller Grate.
Matt lehnte den Kopf ans Busfenster. Die Vibrationen verabreichten ihm eine Art Massage. Er dachte an Stephen McGrath
und die furchtbare Nacht in Amherst, Massachusetts. Er dachte an seine Hände um Stephens Hals. Er überlegte, wie fest er zugedrückt hatte. Er fragte sich, ob er noch hätte loslassen können, als sie gefallen waren, und ob das etwas geändert hätte. Er fragte sich, ob er vielleicht, nur ganz vielleicht, noch etwas fester zugedrückt hatte.
Das fragte er sich oft.
Am Kreisel stieg Matt aus und ging zum Landmark, der beliebtesten Kneipe Livingstons. Der Parkplatz an der Northfield Avenue stand voller Minivans. Matt betrachtete sie höhnisch. Hier gab es diese Grenze nicht, die vielen Gästen im Mel’s solche Probleme bereitete. Das war ein ganz anderer Laden. Es war die größte Weicheier-Bar, die Matt je gesehen hatte. Er stieß die Tür auf.
Hier würde er Lance Banner finden.
Natürlich war das Landmark etwas ganz anderes als das Mel’s. Es war hell erleuchtet. Es war laut. Auf der Anlage rappte die Band Outkast über Rosen die nach »boo-boo« rochen – ungefährliche Multikulti-Farbtupfer in einem rein weißen Vorort. Es gab keine zersprungenen Resopal-Tische, nirgends blätterte Farbe ab, und auf dem Boden lag auch kein Sägemehl. Die Heineken-Leuchtwerbungen funktionierten. Genau wie die nostalgische Budweiser-Uhr mit den Zugpferden, die sich bewegten. Harte Alkoholika wurden nur sehr selten ausgeschenkt. Auf den Tischen standen Bierkrüge. Mindestens die Hälfte der Männer trug Baseball-Trikots mit Sponsorenwerbung: Friendly’s Ice Cream, Best Buy, Burrelle’s Press Clipping – und feierte mit Mannschaftskameraden und Gegnern den Abschluss eines Freizeitliga-Spiels. Etwas weiter hinten saß eine Gruppe College-Studenten auf Heimaturlaub aus Princeton, Rutgers oder vielleicht sogar seiner Beinahe-Alma-Mater, Bowdoin.
Matt trat ein, und keiner drehte sich nach ihm um. Zumindest noch nicht. Alle lachten. Alle hatten rosige Wangen, waren
ausgelassen und gesund. Alle redeten gleichzeitig. Alle lächelten, fluchten viel zu beiläufig und wirkten weich.
Dann sah er seinen Bruder Bernie.
Natürlich war es nicht Bernie. Bernie war tot. Aber der Mann sah ihm verdammt ähnlich. Wenigstens von hinten. Matt und Bernie waren früher öfter mit falschen Papieren hier reingekommen. Sie hatten gelacht, waren ausgelassen gewesen, hatten gleichzeitig geredet und zu beiläufig geflucht. Sie hatten die anderen Leute beobachtet, die Baseballspieler aus der Freizeitliga, und zugehört, wie sie von neuen Küchengeräten erzählten, von ihrer Karriere, den Kindern, den Dauerkarten im Yankee-Stadion und ihren Erfahrungen als Trainer in der Little League. Und wie sie über ihr schwindendes Sexualleben klagten.
Während Matt so dastand und an seinen Bruder dachte, veränderte sich die Stimmung in der Gaststätte. Jemand hatte ihn erkannt. Und eine Welle in Bewegung gesetzt, die immer weiterschwappte. Die Leute flüsterten und drehten sich nach ihm um. Matt hielt nach Lance Banner Ausschau. Er sah ihn nicht. Er fand den Tisch mit den Polizisten – man sah einfach, dass sie das waren – und erkannte den Grünschnabel, der gestern dabei gewesen war, als Lance ihn in die Mangel genommen hatte.
Immer noch schwer betrunken, versuchte Matt, geradeaus zu gehen. Die Polizisten beäugten ihn finster, als er sich näherte. Die Blicke störten ihn nicht. Matt hatte viel Schlimmeres gesehen. Als er auf den Grünschnabel zuging, wurde es still am Tisch.
Matt baute sich direkt vor ihm auf. Der Junge wich nicht zurück. Matt versuchte, nicht zu schwanken.
»Wo ist Lance?«, fragte Matt.
»Wer will das wissen?«
»Der war gut.« Matt nickte. »Wer schreibt Ihnen eigentlich die Dialoge?«
»Was?«
»Na ja, ›Wer will das wissen?‹ find ich echt witzig. Also, ich steh hier vor Ihnen, frag Sie ganz direkt, und Sie reagieren wie aus der Pistole geschossen und ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken mit diesem ›Wer will das wissen?‹« Matt trat näher. »Ich steh direkt vor Ihnen – was glauben Sie wohl, wer das wissen will?«
Matt hörte Stuhlbeine über den Boden kratzen, wandte den Blick aber nicht ab. Der Nachwuchs-Cop sah seine Kumpel an, wandte sich
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