Kein Friede den Toten
Frau, sagte Lance, stamme aus Virginia oder Maryland, das wusste er nicht mehr genau. Mit etwas zu großer Begeisterung fügte er hinzu, dass er Loren gern bei diesem Fall unterstützen würde.
Loren sagte, er brauche sich keine Mühe zu machen, sie komme damit schon zurecht, aber wenn ihm etwas einfiele, solle er ihr Bescheid geben. Lance nickte und fuhr sie zu ihrem Wagen zurück.
Vor dem Aussteigen fragte sie: »Erinnerst du dich an ihn? Als er noch ein Kind war, meine ich?«
»Hunter?« Lance runzelte die Stirn. »Ja, natürlich erinnere ich mich an ihn.«
»Er schien ein ziemlich anständiger Junge zu sein.«
»Das ist bei vielen Mördern so.«
Kopfschüttelnd griff Loren nach dem Türgriff. »Glaubst du das wirklich?«
Lance antwortete nicht.
»Ich hab kürzlich was gelesen«, sagte Loren. »An die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, die Grundthese war aber, dass ein Großteil unserer Zukunft im Alter von fünf Jahren schon vorherbestimmt ist: Wie gut wir in der Schule werden, ob wir zu Verbrechern werden oder wie liebesfähig wir sind. Glaubst du das, Lance?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Interessiert mich eigentlich auch nicht.«
»Du hast doch schon ’ne Menge Verbrecher geschnappt, oder?«
»Ja.«
»Hast du dir je ihre Vergangenheit näher angesehen?«
»Manchmal.«
»Ich hab den Eindruck«, sagte Loren, »dass ich da immer irgendwas finde. Meist gibt’s da eine ziemlich eindeutige Psychose oder ein Trauma. In den Nachrichten heißt es immer: ›Herrje, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der nette Mann kleine Kinder zerstückelt hat – er war immer so höflich.‹ Aber wenn man genauer hinguckt, Lehrer oder die alten Freunde aus der Kindheit fragt, erzählen die meist was anderes. Die fallen nicht aus allen Wolken.«
Lance nickte.
»Also, was ist?«, fragte sie. »Erinnerst du dich an irgendwas in Matt Hunters Vergangenheit, das ihn zum Killer prädestiniert hat?«
Lance dachte darüber nach. »Wenn alles schon mit fünf Jahren festgelegt wäre, bräuchte man uns nicht.«
»Das ist keine Antwort.«
»Was Besseres fällt mir nicht ein. Wenn du versuchst, eine Fallstudie darauf aufzubauen, wie ein Drittklässler sich am Klettergerüst verhält, sehen wir alle ziemlich alt aus.«
Da hatte er auch wieder Recht. Auf jeden Fall musste Loren die Sache im Auge behalten – also musste sie Matt Hunter finden. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr Richtung Süden. Sie hatte immer noch genug Zeit, vor Einbruch der Dunkelheit zur Lockwood Corp. in Wilmington, Delaware, zu kommen.
Sie versuchte, Matt Hunter in der Anwaltskanzlei zu erreichen, aber er war nicht da und würde im Laufe des Tages auch nicht mehr reinkommen. Sie rief seine Privatnummer an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. »Matt, hier Loren Muse. Ich bin Ermittlerin der Staatsanwaltschaft Essex County. Wir kennen uns von vor knapp hundert Jahren an der Burnet Hill. Kannst du mich so bald wie möglich zurückrufen?«
Sie hinterließ ihre Handynummer und ihre Büro-Durchwahl und legte auf.
Für die normalerweise zweistündige Fahrt nach Delaware brauchte sie nur eine Stunde und zwanzig Minuten. Loren fuhr ohne Sirene, ließ das kleine, magnetische Blaulicht auf dem Dach aber die ganze Zeit laufen. Sie raste gerne – wozu war man in der Strafverfolgung tätig, wenn man nicht schnell fahren und eine Waffe tragen durfte?
Randal Hornes Büro lag in einer Anwaltskanzlei wie aus dem Bilderbuch. Sie erstreckte sich über drei Stockwerke in einem Meer von Bürogebäuden, einer endlosen Reihe identisch aussehender Schachteln.
Die Rezeptionistin von Horne, Buckman & Pierce, ein alter Drachen, der seine besten Jahre offensichtlich schon lange hinter sich hatte, aber immer noch sporadisch Feuer spuckte, beäugte Loren, als hätte sie sie schon einmal auf dem Poster mit den gesuchten Sexualstraftätern gesehen. Mit dampfenden Nüstern forderte der Drachen sie auf, Platz zu nehmen.
Randal Horne ließ sie volle zwanzig Minuten warten – ein typisches, wenn auch leicht durchschaubares Anwaltsspielchen. Sie nutzte die Zeit, indem sie etwas in der aufregenden Auswahl an Zeitschriften herumschmökerte, die sich aus mehreren Exemplaren von The Third Branch, dem Newsletter der Bundesgerichte, und dem American Bar Association Journal, der Gazette der Anwaltskammer, zusammensetzte. Loren seufzte. Cosmopolitan oder Glamour hatten sie hier wohl nicht.
Schließlich kam Horne in den Empfangsbereich und baute
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