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Kein Friede den Toten

Kein Friede den Toten

Titel: Kein Friede den Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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haben, da so schnell wie möglich wegzukommen. Es war also still, als ich ankam. Ich hab die Wohnwagentür aufgemacht und als Erstes Blut auf dem Boden gesehen.«
    Er sah sie scharf an. Olivias Atem ging etwas schwerer, ihr Gesicht war aber ruhig und regungslos.
    »Ich hab um Hilfe gerufen. Das war wohl dumm. Wahrscheinlich hätte ich einfach nur schreiend weglaufen sollen. Ich weiß nicht. Noch so ein Wenn, oder? Dann hab ich mich umgesehen. Die Wohnwagen hatten zwei Zimmer, aber sie waren falsch rum aufgestellt, so dass man erst ins Schlafzimmer
kam. Ich hatte die untere Koje. Kimmy lag über mir. Cassandra, die Neue, schlief auf der anderen Seite. Kimmy war immer blitzsauber und ordentlich. Sie hat uns auch immer zum Aufräumen gedrängt. ›Unser Leben ist Dreck‹, hat sie immer gesagt, ›das heißt aber nicht, dass wir im Dreck leben müssen‹.«
    »Das Zimmer war jedenfalls total verwüstet. Die Schubladen waren rausgezogen, und alles lag voller Klamotten. Und da, bei Cassandras Bett, wo die Blutspur sich verlor, sah ich zwei Beine auf dem Boden. Ich bin rübergerannt und wäre fast über sie gestürzt.«
    Olivia sah ihm direkt in die Augen. »Cassandra war tot. Ich brauchte ihr gar nicht den Puls zu fühlen. Sie lag auf der Seite, fast wie ein Fötus zusammengekrümmt. Ihre Augen waren offen und starrten zur Wand. Ihr Gesicht war blau angeschwollen. Jemand hatte ihr mehrmals brennende Zigaretten auf dem Arm ausgedrückt. Die Arme waren noch mit Klebeband hinter dem Rücken zusammengebunden. Und vergiss nicht, Matt, dass ich achtzehn Jahre alt war. Vielleicht bin ich mir älter vorgekommen oder habe älter ausgesehen. Vielleicht hatte ich schon viel zu viel Lebenserfahrung. Aber stell dir das mal vor. Ich steh da und starre auf eine Leiche. Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen. Noch nicht mal, als ich die Geräusche aus dem anderen Zimmer hörte, als Emma schrie: »Nicht, Clyde!«
    Sie schwieg, schloss die Augen und atmete tief durch.
    »Als ich mich dann umdrehte, sah ich gerade noch, wie eine Faust auf mein Gesicht zukam. Ich konnte nicht mehr reagieren. Clyde hat den Schlag auch voll durchgezogen. Seine Fingerknöchel trafen direkt auf meine Nase. Bevor ich gespürt habe, dass sie bricht, hatte ich es längst gehört. Mein Kopf ist nach hinten geklappt, ich bin umgefallen und direkt auf Cassandra gelandet – das war wohl das Schlimmste. Auf eine Leiche zu fallen. Ihre Haut war ganz kalt. Ich habe versucht, von
ihr runterzukriechen. Mir ist Blut aus der Nase in den Mund gelaufen.«
    Olivia schwieg einen Moment lang, verschluckte sich und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Matt hatte sich noch nie hilfloser gefühlt. Er bewegte sich nicht. Er sagte nichts. Er versuchte nur sich zu sammeln.
    »Clyde hat sich neben mich gestellt und auf mich herab gesehen. Sein Gesicht … er hatte fast immer so ein gemeines Grinsen im Gesicht. Ich hatte auch oft gesehen, wie er Emma mit dem Handrücken geschlagen hat. Ich weiß, dass das für dich fremd klingt. Warum haben wir nichts getan? Warum haben wir uns nicht gewehrt? Aber Schläge waren für uns nichts Ungewöhnliches. Sie waren normal. Das musst du verstehen. Wir kannten das nicht anders.«
    Matt nickte, was ihm zwar völlig unangemessen vorkam, aber er verstand wirklich, wie man so denken konnte. Im Gefängnis waren solche Gedanken ganz normal – es war nicht so, dass man etwas Schreckliches getan hatte, das Schreckliche war einfach die Norm.
    »Auf jeden Fall«, fuhr Olivia fort, »hat er nicht mehr gegrinst. Wenn du Klapperschlangen für fies hältst, bist du Clyde Rangor nie begegnet. Aber wie er da so über mir stand, sah er richtig verängstigt aus. Er hat schwer geatmet. Sein Hemd war blutverschmiert. Hinter ihm – und diesen Anblick werde ich nie vergessen – stand Emma mit hängendem Kopf. Ich lag verletzt und blutend da und sah an dem Irren mit den geballten Fäusten vorbei auf sein anderes Opfer. Sein eigentliches Opfer, glaube ich.«
    »›Wo ist das Video?‹, schrie er mich an. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Er trat mir kräftig auf den Fuß. Ich heulte vor Schmerz. Dann rief er: ›Willst du etwa Spielchen mit mir treiben, du Hure? Wo ist es?‹ Ich habe versucht, von ihm wegzukrabbeln, kam aber nicht aus der Ecke raus. Clyde
hat Cassandras Leiche mit den Füßen zur Seite gestoßen und ist mir gefolgt. Ich saß in der Klemme. Aus der Ferne habe ich Emmas Stimme gehört. Sie klang dünn und jämmerlich wie ein Lamm.

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