Kein Friede den Toten
wissen wollte, was sie meinte. »Du sagst, du warst in Pflegefamilien?«
»Ja.«
»Und du bist ausgerissen?«
»Meine letzte Pflegefamilie hat uns zu solcher Arbeit ermutigt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr du da rauswillst.
Sie haben uns also gesagt, wo wir hingehen sollen. Die Schwester meiner letzten Pflegemutter war Managerin in so einem Club. Sie hat uns auch falsche Ausweise besorgt.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich versteh immer noch nicht, warum du mir nicht die Wahrheit gesagt hast.«
»Wann, Matt?«
»Wie wann?«
»Wann hätte ich dir das erzählen sollen? In der ersten Nacht in Las Vegas? Oder als ich zu dir ins Büro gekommen bin? Bei der zweiten Verabredung? Zur Verlobung? Wann hätte ich es dir sagen sollen?«
»Ich weiß nicht.«
»So einfach ist das nicht.«
»Für mich war es auch nicht leicht, von meinem Gefängnisaufenthalt zu erzählen.«
»An meiner Situation hänge nicht nur ich allein«, sagte sie. »Ich habe einen Pakt geschlossen.«
»Was für einen Pakt?«
»Wenn es nur um mich gegangen wäre, hätte ich es riskieren können. Aber ihr Leben durfte ich nicht aufs Spiel setzen.«
»Wessen Leben?«
Olivia sah zur Seite und sagte lange nichts. Dann zog sie einen Zettel aus der Gesäßtasche, faltete ihn langsam auseinander und reichte ihn Matt. Dann wandte sie den Blick wieder ab.
Matt nahm den Zettel und drehte ihn um. Es war der Ausdruck eines Artikels von der Internet-Seite der Nevada Sun News. Er las ihn. Es dauerte nicht lange.
Frau erschlagen
Las Vegas, NV – Candace Potter, 21, wurde ermordet in einem Trailer Park an der Route 15 aufgefunden. Sie wurde erdrosselt. Zu einem möglichen Sexualdelikt wollte
sich die Polizei nicht äußern. Ms Potter arbeitete als Tänzerin im Young Thangs, einem Nachtclub am Stadtrand, wo sie unter dem Künstlernamen Candi Cane auftrat. Den Behörden zufolge laufen die Ermittlungen, und es werden einige vielversprechende Spuren verfolgt.
Matt sah sie an. »Ich versteh das nicht.« Sie hatte das Gesicht noch abgewandt. »Hast du dieser Candace was versprochen?«
Sie lachte freudlos. »Nein.«
»Wem dann?«
»Was ich vorhin gesagt habe. Dass ich nicht so sehr gelogen habe, sondern vielmehr gestorben bin.«
Olivia drehte sich zu ihm um.
»Das bin ich«, sagte sie. »Ich war Candace Potter.«
36
Als Loren wieder in ihr Büro kam, saß Roger Cudahy, einer der Techniker, die in Cingles Büro gefahren waren, auf ihrem Stuhl, hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
»Bequem?«, fragte Loren.
Er lächelte breit. »Oh, yeah.«
»Sehen wir nicht ein bisschen wie die sprichwörtliche Katze aus, die den sprichwörtlichen Kanarienvogel gefressen hat?«
Er lächelte weiter. »Sprichwörtlich weiß ich nicht, aber trotzdem: Oh, yeah.«
»Was gibt’s?«
Die Hände immer noch hinter dem Kopf, deutete Cudahy mit dem Kinn in Richtung Laptop. »Schau’s dir an.«
»Auf dem Laptop?«
»Oh, yeah.«
Sie bewegte die Maus. Der dunkle Bildschirm erwachte. Und darauf erschien ein Foto von Charles Talley. Er hatte die Hände gehoben. Sein Haar war blauschwarz. Er grinste großspurig.«
»Das hast du von Cingle Shakers Festplatte?«
»Oh, yeah. Es ist von einem Fotohandy.«
»Gute Arbeit.«
»Warte.«
»Was ist?«
Cudahy grinste weiter. »Wie es bei Bachman Turner Overdrive heißt: You ain’t seen nothing yet.«
»Was noch?«, fragte Loren.
»Drück auf den Pfeil. Den rechten.«
Loren drückte auf den Pfeil. Ein verwackeltes Video startete. Eine Frau mit einer platinblonden Perücke kam aus dem Badezimmer. Sie ging zum Bett. Als das Video zu Ende war, sagte Cudahy: »Kommentare?«
»Nur einen.«
Cudahy streckte seine Handfläche aus. »Sag’s mir.«
Loren klatschte ihn ab. »Oh, yeah.«
37
»Das war ungefähr ein Jahr, nachdem ich dich kennen gelernt hatte«, sagte Olivia.
Sie stand auf der anderen Seite des Zimmers. Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Das Rückgrat war gerader. Es war, als zöge sie Kraft daraus, ihm das Ganze zu erzählen. Matt hingegen versuchte, noch nichts zu verarbeiten. Er wollte erst einmal alles aufnehmen.
»Ich war achtzehn, wohnte aber schon seit zwei Jahren in Las Vegas. Viele von uns hausten in alten Wohnwagen. Der Club-Manager, ein gemeiner Kerl namens Clyde Rangor, besaß
ein paar Meilen außerhalb ein Stück Land. Es war nur Wüste. Er hatte einen Maschendrahtzaun aufgebaut und sich drei oder vier unglaublich heruntergekommene
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