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Kein Friede den Toten

Kein Friede den Toten

Titel: Kein Friede den Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Er zuckte die Achseln und sagte: »Ich will nur nicht, dass sich was ändert.«
    »Ich auch nicht. Und wenn mir was einfallen würde, wie ich das verhindern könnte, würde ich das tun. Ich habe Angst, Matt. Ich habe noch nie solche Angst gehabt.«
    Sie sah ihn an. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seinen Hinterkopf. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn. Küsste ihn hart. Er kannte diesen Kuss. Es war das Vorspiel. Trotz allem reagierte sein Körper. Der Kuss wurde fordernder. Sie rückte näher, drückte sich an ihn. Seine Augenlider flackerten.
    Sie drehten sich ein wenig zur Seite, und plötzlich schoss ein brennender Schmerz Matts Rippen hinab. Er zuckte zusammen und schrie kurz auf. Der leise Schrei beendete den innigen Augenblick. Olivia ließ ihn los und rückte etwa von ihm ab. Sie senkte den Blick.
    »Alles, was ich dir je über mich erzählt habe«, sagte sie, »war gelogen.«
    Er reagierte nicht. Er wusste nicht, was er erwartet hatte – das nicht –, aber er blieb einfach sitzen und wartete.
    »Ich bin nicht in Northways, Virginia, aufgewachsen. Ich war nicht auf der University of Virginia – ich war nicht mal auf der High School. Mein Vater war nicht der Arzt der Stadt – ich weiß nicht, wer mein Vater war. Ich hatte nie ein Kindermädchen namens Cassie oder so was. Das habe ich mir alles ausgedacht.«
    Vor dem Fenster bog ein Wagen in die Straße ein. Als er vorbeifuhr, tanzten die Scheinwerfer über die Wand. Matt saß nur stocksteif da.
    »Meine richtige Mutter war heroinsüchtig und hat mich mit drei zur Adoption freigegeben. Zwei Jahre später ist sie an einer
Überdosis gestorben. Ich wurde von einer Pflegefamilie zur nächsten geschoben. Wie es da war, willst du gar nicht wissen. Das ging so, bis ich mit sechzehn ausgerissen bin. Ich bin in der Nähe von Las Vegas gelandet.«
    »Mit sechzehn?«
    »Ja.«
    Olivia sprach jetzt mit seltsam monotoner Stimme. Ihre Augen waren klar, sie starrte aber einfach geradeaus an ihm vorbei. Sie schien auf eine Reaktion zu warten. Matt war immer noch perplex, versuchte, das Ganze zu begreifen.
    »Und diese Geschichten über Dr. Joshua Murray …?«
    »Du meinst das junge Mädchen mit der toten Mutter, dem netten Vater und den Pferden?« Sie lächelte fast. »Ach, komm, Matt. Das hab ich aus einem Buch, das ich mit acht gelesen habe.«
    Er machte den Mund auf, es kam aber nichts heraus. Er versuchte es noch einmal. »Warum?«
    »Warum ich gelogen habe?«
    »Ja.«
    »Vielleicht habe ich auch nicht so sehr gelogen …«, sie brach ab und sah ihn an, » … sondern ich bin vielmehr gestorben. Das klingt ziemlich melodramatisch, ich weiß. Aber Olivia Murray zu werden war mehr als ein Neuanfang. Es war, als wäre ich nie diese andere Person gewesen. Das Pflegekind war tot. Olivia Murray aus Northways, Virginia, hat ihren Platz eingenommen.«
    »Also war alles …« Er hob die Hände. »Das war alles eine Lüge?«
    »Das mit uns nicht«, sagte sie. »Nicht meine Gefühle für dich. Nicht mein Verhalten in deiner Nähe. Nichts, was uns betraf, war gelogen. Nicht ein einziger Kuss. Nicht eine Umarmung. Nicht ein Gefühl. Du hast keine Lüge geliebt. Du hast mich geliebt.«

    Geliebt, hatte sie gesagt. Eine Vergangenheitsform. Du hast mich geliebt. Das hieß, es war vorbei.
    »Als wir uns in Las Vegas getroffen haben, warst du also gar nicht auf dem College?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Und die Nacht? Im Club?«
    Sie sah ihn an. »Ich sollte arbeiten.«
    »Das versteh ich nicht.«
    »Doch, Matt. Du verstehst mich schon.«
    Er dachte an die Internet-Seite. Die Striptease-Seite.
    »Du warst Tänzerin?«
    »Tänzerin? Na ja, schon, der politisch korrekte Begriff ist erotische Tänzerin. So nennen sich alle Mädels. Aber ich war Stripperin. Und manchmal, wenn ich musste …« Olivia schüttelte den Kopf. Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Da kommen wir nie drüber weg.«
    »Und an diesem Abend«, sagte Matt, und eine Woge der Wut erfasste ihn, »wie war das? Hab ich ausgesehen, als wäre bei mir was zu holen?«
    »Das ist nicht komisch.«
    »Ich wollte nicht komisch sein.«
    Ihre Stimme war hart wie Stahl. »Du hast keine Ahnung, was mir diese Nacht bedeutet hat. Sie hat mein Leben verändert. Eins hast du nämlich nie begriffen, Matt.«
    »Was hab ich nie begriffen?«
    »Den Wert deiner Welt«, sagte sie. »Dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen.«
    Er war nicht sicher, was sie meinte – oder ob er

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