Kein ganzes Leben lang (German Edition)
setzte ihren Weg fort. Die alte schmiedeeiserne Bank, auf der ihr Helene immer Märchen erzählt hatte, war mit Moos überwachsen. Unter den hohen Bäumen tauchte schließlich die Villa auf, die einmal weiß gewesen war. Jetzt war sie grau, mit Moos und Efeu bewachsen. Das obere Stockwerk, wo auch ihr Zimmer gewesen war, war geschlossen.
„Was brauche ich so viel Platz“, hatte Helene sich herausgeredet, als sie sie darauf ansprach. Sie hatte es dabei belassen.
Sie stieg die Steinstiegen zu der Terrasse empor und öffnete die Terrassentüren.
„Da bist du ja, gerade rechtzeitig zum Tee. Wasch dir die Hände. Laura schläft.“ Helene wirkte in dem konservativen Wohnzimmer fehl am Platze mit ihrem türkisen Kaftan, den roten Haaren, die ihr wild vom Kopf abstanden und von einem grünen Kopftuch gebändigt wurden. Sie verschwand in die Küche.
Anna ließ sich auf die Biedermeiercouch fallen, deren Bezug verblichen und abgetragen war.
„Sag mal, wo ist eigentlich Maria?“ Anna ließ ihre Hand über den rissigen Sofabezug gleiten.
Maria war die gute Seele des Hauses gewesen. Sie hatte hier mit Helene gewohnt und ihr den Haushalt geführt.
„Weißt du, sie war zu alt für die Arbeit und ist zu ihrem Bruder gezogen.“
„Natürlich“, murmelte Anna.
Helene tauchte mit einem beladenen Tablett auf. Sie stellte eine Schale mit Gebäck auf den Tisch.
„Helene, du bist pleite“, stellte Anna ohne Umschweife fest.
Helene goss ihr eine Tasse dampfenden schwarzen Tee ein. Sie stellte die Kanne auf einen Untersetzer und setzte sich Anna gegenüber.
„Stimmt“, erwiderte sie und bemühte sich, Anna fest anzusehen. Doch in ihrem Augenwinkel schimmerte es verdächtig.
„Warum hast du nichts gesagt?“ Anna nippte an dem Tee.
Helene zuckte mit den Schultern.
„Ich wollte es dir ja sagen, aber dann kam diese Sache dazwischen.“
Anna stand auf und setzte sich neben Helene. Sie legte den Arm um sie.
„Wir sind doch eine Familie. Was kann da wichtiger sein?“
Jetzt lief Helene doch eine Träne hinunter. Sie wischte sie wirsch weg.
„Wie hätte ich es auch halten können? Dieser alte Kasten ist eine Geldvernichtungsmaschine. Ich hätte vor Urzeiten verkaufen sollen.“
„Aber du liebst dieses Haus“, wandte Anna ein. „Und ich auch“, fügte sie leise hinzu.
„Aber was soll ich denn hier alleine?“
„Du hast doch jetzt Antonio.“
Helene verzog den Mund.
„Was jetzt? Ich dachte, er ist die Liebe deines Lebens.“
„Schon, aber für wie lange? Apropos, er sollte schon längst aus der Stadt zurück sein.“ Helene sah auf ihre Armbanduhr.
„Lenk nicht ab. Wie viel brauchst du?“
Helene seufzte. „Sechs Richtige im Lotto.“ Sie griff nach der Flasche Gin, die zwischen anderen Spirituosen auf einem silbernen Beistellwagen stand.
„Ich brauch jetzt was Starkes“, verkündete Helene. „Gib mir die Flasche. Ich mach uns zwei Gin Tonic.“
Kurz darauf kam Anna aus der Küche zurück mit zwei Gläsern. „Auf uns“, sagte sie und stieß mit Helene an.
Sie schwiegen ein paar Minuten. Helene war in diesem Haus aufgewachsen. Ihre Familie waren reiche Kaufleute gewesen. Sie hatten für ihre Tochter den Sohn einer adeligen Familie ins Auge gefasst. Doch Helene, damals schon dickköpfig, hatte da nicht mitgespielt. Sie hatte sich in Heinrich verliebt, der aus einer gutbürgerlichen, aber armen Familie stammte. Nicht gut genug für ihre Familie, aber gut genug für sie. Als sie schwanger wurde, willigten die Eltern in eine Ehe ein, um einen Skandal zu vermeiden.
„Wie hast du es nur jahrelang ausgehalten, dass Großvater dich in deinem eigenen Haus mit deiner Schwester hinterging?“
„Ich habe mich blind und taub gestellt.“
„Und dann, als du Heiner ... als Heiner tot war, wie hast du es mit Adele ausgehalten?
Immerhin hat sie noch ein Jahr gelebt. Hattest du nicht Lust, auch sie um die Ecke zu bringen?“ Anna lachte, dann stutzte sie, ihr Lachen erstarb. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hielt sich an dem Glas fest.
Helene senkte den Blick, sie trank einen Schluck, ihr Blick verlor sich in dem wilden Garten.
Für eine Weile sagte niemand etwas. Die Standuhr tickte, die Holzdielen knarrten irgendwo im Haus. Der Wind stieß die Terrassentür auf und blähte die Vorhänge auf. Die Tür schlug gegen die Anrichte. Anna schreckte hoch und ging zur Fensterfront.
Wenn die Bäume geschnitten wären, würde man von hier die Elbe sehen, dachte sie. Sie fröstelte, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher