Kein König von Geburt
Seilen abgezäunten Raums. König Sharn und Königin Ayfa saßen auf einer niedrigen Estrade an der einen Seite, flankiert von Standartenträgern. Sie trugen leichte Gewänder in Blau und Grün mit Silberstreifen und auf dem Kopf identische silbrige Diademe. Elfenpagen trugen Schüsseln mit Obst und Süßwaren, Flakons mit Bier und Apfelwein in schneegefüllten Eimern und auch Geschenke von solchen, die sich um eine Gunst bewarben, heran. Zur linken Hand des Monarchenpaares saßen die königlichen Schreiber, eifrig beschäftigt, Petitionen, Beschwerde, Vorschläge und Denunziationen in Empfang zu nehmen.
»Möge der Stein dem Hochkönig, der Hochkönigin und dem Gnomenrat der Firvulag gefallen!« rief der Erste Herold. »Die Gilde der Steinschneider, der der ehrenwerte Yuchor Sauberpfote vorsteht, präsentiert hiermit dem Volk der Firvulag in der Hoffnung auf Billigung und Zustimmung die neue Große Trophäe!«
Die ganze Versammlung schnappte überwältigt nach Luft. Zehn Kleine Leute mit den Abzeichen ihrer Gilde, angeführt von ihrem Präsidenten, schleppten den auf einem Gestell ruhenden Singenden Stein vor den Thron. Es war ein enormer Beryll, durchscheinend Blaugrün mit einem schwachen Kern pulsierenden Lichts, geschnitten in der Form eines Feldstuhls, wie ihn königliche Hoheiten der Firvulag und der Tanu benutzten, wenn sie in der Hitze des Großen Wettstreits Helden mit der Akkolade ehrten. Im Querschnitt bildete er ein flaches U. Er hatte keine Rückenlehne, aber mit Arabesken verzierte Armstützen. Die Beine und die Ecken waren so geformt, daß sie heraldischen Flügelwesen mit reptilienartigen Körpern ähnelten, den Drachen des verlorenen Duat. Alle Linien des Schnitzwerks waren mit einer glänzenden Platin-Rhodium-Legierung ausgegossen. Ein grünes Seidenkissen mit Troddeln, von Fäden des gleichen Metalls durchzogen, lagen auf dem Sitz.
»Diese Große Trophäe«, verkündete der Herold, »soll das Symbol einer neuen Ära der Gegnerschaft zwischen den Kleinen Leuten des Vielfarbenen Landes und ihrem verabscheuungswürdigen Feind sein - bis ans Ende der Welt!«
Ein Höllenlärm aus Jubel und Kriegsgeschrei brach aus, interpunktiert von allerlei Flüchen und Rufen: »Tod allen Tanu!« und »Ylahayll Aiken-Lugonn!«
Der König und die Königin hoben Schweigen gebietend die Arme, und der Herold setzte seine Rede fort.
»Der Singende Stein soll der Kampfgesellschaft verliehen werden, die in dem Wettstreit, der dieses Jahr auf dem traditionellen Goldfeld der Firvulag abgehalten wird, Sieger bleibt. Er ist so programmiert, daß er mit hundert Stimmen ein Freudenlied singt - aber nur, wenn der wahre Hochkönig des Vielfarbenen Landes darauf thront. Läßt sich ein geringerer Herrscher oder einer, der sich den Titel angemaßt hat, darauf nieder, wird er statt süßer Musik den Tod finden!«
Der Firvulag-Adel brach von neuem in ohrenbetäubendes Gebrüll aus. Viele ließen ihre illusorischen Aspekte aufblitzen, und glühende groteske oder alptraumhafte Erscheinungen sprangen da und dort zwischen den gutgekleideten Riesen und Gnomen umher.
Nun näherte sich der Präsident der Steinschneider-Gilde der Estrade, während seine Leute die Trophäe von ihrem Traggestell abluden. »Hochkönig! Hochkönigin! Gemeinsame Souveräne der Höhen und Tiefen, Monarchen der unendlichen Hölle, Vater und Mutter aller Firvulag und unangefochtene Herrscher der bekannten Welt - manifestiert! «
Mit großer Geste auf den wartenden Feldstuhl zeigend, trat der Gnom zur Seite. Sharn betrachtete den Stein nachdenklich, rührte sich jedoch nicht.
Ayfa zeigte mit strengem Finger auf den ehrenwerten Yuchor Sauberpfote. »Bist du sicher, daß das Ding ordnungsgemäß programmiert ist?«
Der Gildenpräsident riß sich die Mütze ab und fiel auf die Knie. »O ja, Hochkönigin!«
»Nach dir, mein Lieber«, sagte Ayfa zu ihrem Mann. Sharn schritt majestätisch zu dem Stein, drehte sich um und senkte das königliche Hinterteil darauf nieder.
Acht Noten erklangen. Sie hörten sich wie das Läuten ungeheurer Glocken an, die sich irgendwie die Obertöne von Firvulag-Stimmen zugelegt hatten. Sie schwollen in der Luft wie körperliche Präsenzen, die man ebenso fühlen wie hören konnte, steigerten sich gegenseitig mit wunderbaren harmonischen Vibrationen. Die acht Noten schienen Antworten von der Erde, von den Bergen ringsum, von den Knochen der Lauschenden hervorzurufen. Jede Wiederholung der Phrase war lauter als die vorherige,
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