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Kein König von Geburt

Kein König von Geburt

Titel: Kein König von Geburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian May
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unter dem Dreck, die Nase kurz und flach, die Augen klein, weit auseinanderstehend, ein zu graues Blau, jetzt vor ungläubigem Entzücken aus den Höhlen quellend. Der Mund offen, die Lippen ganz beschmiert mit dem eben noch geteilten Essen. Kariöse Zähne.
    »Mein Gott aus dem Meer! Du bist wach!«
    Das Gesicht kam näher, bis es verschwamm, und wieder war da der Kuß, diesmal nicht nährend, sondern glühend vor freudiger Leidenschaft. Sie gab seinen Mund frei, und ihre Lippen liebkosten seine Nasenlöcher, seine Wangen, seine Augen, seine Stirn, die Läppchen und Muscheln seiner Ohren, sein bartloses Kinn.
    »Du bist wach! Wach und am Leben! Mein schöner Gott!«
    Er war unfähig, etwas anderes zu bewegen als seine Augen: Ein eingekerkerter Geist, jeder metapsychischen Fähigkeit ermangelnd. Als die Frau aufsprang und fortrannte, sah er Steinwände, eine Art Höhle, die sich oben in Dunkelheit verlor. Aber zu seinen Füßen (wenn es sie gab) war Licht.
    Eine nörgelnde, säuerliche Altmännerstimme fragte, ihr Husten unterbrechend: »So, ist er wach? Dann wollen wir uns das Wunder einmal ansehen.«
    Schlurfende Schritte, keuchender, vor Schleim gurgelnder Atem. Ihr aufgeregtes Flüstern: »Sei leise, Opa. Sei vorsichtig. Faß ihn nicht an!«
    »Halt den Mund, du dumme Kuh, und laß mich sehen!«
    Beide beugten sich über ihn. Eine große, derbe Frau in einem befleckten Rehlederhemd. Ein alter Geringer, kahlköpfig und bärtig, mit geröteten Augen und einer grausamen Hakennase. Er trug eine zerlumpte Stoffhose und eine schwarze Nerzweste, glänzend und kostbar.
    Der alte Mann hockte sich nieder. Schnell wie eine Spinne schoß eine seiner Hände vor, faßte zu.
    »Opa, nein!« jammerte die Frau.
    Die eben erst erwachten Augen füllten sich mit Schmerzenstränen. Der alte Mann hatte ihn beim Haar gepackt und riß ihn hoch. Als die Tränen überflossen, kam ein Körper in Sicht, bis zur Brust in ein Pelzgewand gehüllt. Der alte Folterer ließ das Haar los, und er fiel schlaff zurück. Gackernd zwickte ihn der Alte in die Nase, kniff eine Wange mit rauhen Fingernägeln, warf seinen Kopf mit scharfen Schlägen von einer Seite zur anderen.
    »Ja! Ja! Wach! Aber hilflos, du hochmächtiger Klumpen Tanu-Scheiße! Du Haufen totes Fleisch!«
    Unter schrillen Schreien zerrte die Frau den alten Mann auf die Füße. »Du darfst den Gott nicht verletzen, Opa!« sagte sie mit fürchterlicher Stimme. Ein Plumpsen, ein schmerzlicher Atemzug, ein Wimmern war zu hören. Und die Frau: »Er gehört mir! Ich habe ihn vor dem Meer und dem Tod gerettet. Ich lasse es nicht zu, daß du ihn verletzt.« Wieder das Plumpsen und schwache Schreie.
    »Gottverdammt noch mal, Mädchen, ich wollte ihm doch gar nichts tun. Auu ... Du hast mir das Rückgrat verrenkt, du Trampel! Hilf mir hoch.«
    »Erst versprechen, Opa.«
    »Ich verspreche. Ich verspreche.« Und bösartiges subvokales Gemurmel.
    »Geh und hol seine Hand! Und das Öl, das auf dem Feuer warmsteht.«
    Murrend und schniefend ging der alte Mann. Die Frau kniete anbetend nieder, und wieder war da der Kuß ihrer leicht aufgestülpten Lippen. Schwach biß er die Zähne vor ihrer eindringenden Zunge zusammen.
    »Nein, nein«, schalt sie sanft. Eine Hand glättete sein Haar. »Ich liebe dich. Du darfst keine Angst haben. Gleich werde ich dich sehr glücklich machen. Aber zuerst gibt es eine Überraschung.«
    Opa stand da mit einem Lederbeutel und einem offenen Behälter.
    »Darf ich ... darf ich zusehen?« fragte der alte Rohling. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz angenommen, und er leckte sich die aufgesprungenen Lippen. »Bitte, Huldah, laß mich zusehen!«
    Ihr Kichern verriet eine erstaunliche Ironie. »Du willst dich erinnern, wie es mit dir war.«
    »Habe ich nicht für dich eine Hand geschnitzt?« winselte der Alte. »Ich werde kein Geräusch machen. Du wirst gar nicht merken, daß ich da bin.«
    »Ich weiß, daß du uns nachts belauschst. Dummer alter Opa. Na gut. Aber zuerst die Hand.«
    Eine Verringerung der Wärme. Sie schlug die Pelzdecke zurück. Sein kinästhetischer Sinn nahm schwach eine Bewegung an seiner rechten Seite wahr. Dann sah er es.
    Sie hob seinen rechten Arm - auf halbem Weg unter dem Ellbogen endete er in einem Stumpf.
    Von tief unten aus seiner Kehle kam ein Laut.
    Der Arm wurde gesenkt. Sie rief voller Mitleid: »Oh, armer Gott! Ich vergaß, daß du es nicht wußtest.« Küsse. Schreckliche Küsse. »Als ich dich am Rand der Lagune fand, warst du

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