Kein Kuss unter dieser Nummer: Roman (German Edition)
sein.
Und überall, im ganzen Haus, sind Bücher. In Dreierreihen hintereinander in Regalen, in Stapeln auf dem Boden und in den Ecken der verkalkten Badezimmer. Antony schreibt Bücher, Wanda schreibt Bücher, Magnus schreibt Bücher, und sein älterer Bruder Conrad schreibt Bücher. Sogar Conrads Frau Margot schreibt Bücher. 12
Was toll ist. Ich meine, es ist wunderbar, so viele geniale Intellektuelle in der Familie zu haben. Aber man fühlt sich dabei doch ein klitzekleines bisschen unzulänglich.
Nicht dass einer mich hier falsch versteht. Ich halte mich für einigermaßen intelligent. Sie wissen schon, für einen normalen Menschen, der zur Schule gegangen ist und auf dem College war und einen Job hat und so. Aber das hier sind keine normalen Leute. Die spielen in einer anderen Liga. Die haben Superhirne. Sie sind die intellektuelle Ausgabe der Unglaublichen . 13 Ich habe seine Eltern erst ein paarmal getroffen, als sie für eine Woche nach London kamen, weil Antony irgendeinen wichtigen Vortrag halten sollte, doch das reichte mir schon. Während Antony über Politische Theorie sprach, stellte Wanda einem Think-Tank ihre Arbeitsergebnisse zum Thema »Feministischer Judaismus« vor, und dann traten beide in The Culture Show auf und nahmen gegensätzliche Positionen zu einer Doku ein, die den Einfluss der Renaissance auf die Moderne beleuchtete. 14 Vor diesem Hintergrund fand also unsere erste Begegnung statt. Kein Druck oder irgendwas.
Im Laufe der Jahre bin ich den Eltern so mancher Freun-de vorgestellt worden, aber – ganz ehrlich – das war die schlimmste Erfahrung von allen. Wir hatten uns gerade die Hand gegeben und plauderten, und ich erzählte Wanda ganz stolz, welches College ich besucht hatte, als Antony mit diesen hellen, kalten Augen über seine Lesebrille hinwegsah und sagte: »Ein Abschluss in Physiotherapie. Wie amüsant.« Ich war am Boden zerstört. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Tatsächlich war ich dermaßen perplex, dass ich aufs Klo ging. 15
Danach war ich natürlich wie erstarrt. Diese drei Tage waren das reine Elend. Je intellektueller das Gespräch wurde, desto gehemmter und unbeholfener benahm ich mich. Mein zweitschlimmster Moment: »Proust« falsch auszusprechen, woraufhin sich alle Blicke zuwarfen. 16 Mein allerschlimmster Moment: Als wir uns alle gemeinsam University Challenge im Salon angesehen haben und der Teil mit den Knochen kam. Mein Thema! Das habe ich studiert! Ich kenne die lateinischen Namen und alles! Doch als ich gerade Luft holte, um die erste Frage zu beantworten, hatte Antony die korrekte Antwort bereits gegeben. Beim nächsten Mal war ich schneller – aber er kam mir trotzdem zuvor. Das Ganze war wie ein Wettrennen, und er gewann. Dann, am Ende, sah er zu mir herüber und fragte: »Lernt man denn in der Physiotherapeutenschule gar nichts über Anatomie, Poppy?«, und mir fehlten einfach die Worte.
Magnus sagt, er liebt mich , nicht mein Gehirn, und ich soll seine Eltern einfach ignorieren. Und Natasha meinte, ich soll einfach an den Klunker und das Haus in Hampstead und die Villa in der Toskana denken. Was typisch Natasha ist. Wohingegen mein eigener Ansatz folgender war: Denk einfach nicht an sie. Das ging gut. Schließlich waren sie in Chicago, Tausende von Meilen weit weg.
Aber jetzt sind sie wieder da.
O Gott. Und ich bin immer noch etwas wacklig, was »Proust« angeht. (Prust? Prost?) Und ich habe die lateinischen Namen für die Knochen nicht wiederholt. Und ich trage warme rote Rentierhandschuhe im April. Mit Troddeln.
Meine Knie zittern, als ich auf die Klingel drücke. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich komme mir vor wie die Vogelscheuche im Zauberer von Oz . Jeden Augenblick werde ich mitten auf dem Weg zusammenbrechen, und Wanda wird mich steinigen, weil ich den Ring verloren habe.
Hör auf, Poppy. Alles wird gut. Niemand hegt einen Verdacht. Ich sage einfach, ich hätte mir die Hand verbrannt.
»Hi, Poppy!«
»Felix! Hi!«
Ich bin so erleichtert, als Felix mir die Tür aufmacht, dass meine Begrüßung als bebendes Japsen herauskommt.
Felix ist das Baby der Familie, erst siebzehn und noch auf der Schule. Magnus hat mit ihm im Haus gewohnt, solange die Eltern weg waren, als Babysitter, und ich bin mit eingezogen, nachdem wir verlobt waren. Nicht dass Felix einen Babysitter bräuchte. Er ist sehr verschlossen, liest die ganze Zeit, und man merkt gar nicht, dass er zu Hause ist. Einmal habe ich versucht, mit ihm ein kleines
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