Kein Kuss unter dieser Nummer: Roman (German Edition)
erlebt.«
Versicherung? Zeitlimit?
Plötzlich wird mir ganz klamm vor schlechtem Gewissen. Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Ich habe mich weder bei meiner Versicherung noch bei der von den Tavishes erkundigt. Stattdessen habe ich an einem Zebrastreifen gestanden, meine Gelegenheit verpasst, die Straße zu überqueren, anderer Leute E-Mails gelesen und darüber gelacht. Prioritäten , Poppy!
»Stimmt«, bringe ich schließlich hervor. »Ja, das wusste ich. Ich bin schon dabei.«
Ich lege auf und stehe einen Moment regungslos da, während der Verkehr vorüberrauscht. Es ist, als hätte er eben meine Seifenblase zerplatzen lassen. Ich muss reinen Tisch machen. Der Ring gehört den Tavishes. Sie sollten wissen, dass er weg ist. Ich werde es ihnen beichten müssen.
Hi! Ich bin’s, das Mädchen, von dem ihr nicht wollt, dass es euren Sohn heiratet, und wisst ihr was? Ich habe euren kostbaren Familienring verloren!
Kurz entschlossen gebe ich mir weitere zwölf Stunden und drücke noch mal auf den Ampelknopf. Für alle Fälle. Für alle Fälle.
Aber dann erzähle ich es ihnen.
Ich hatte immer gedacht, ich würde mal Zahnärztin werden. In meiner Familie gibt es mehrere Zahnärzte, und es schien mir immer ein ganz anständiger Beruf zu sein. Doch dann, als ich fünfzehn war, schickte mich die Schule zu einem einwöchigen Berufspraktikum in die physiotherapeutische Station unseres Krankenhauses. Alle Therapeuten waren dermaßen begeistert von dem, was sie taten, dass es mir ein wenig engstirnig vorkam, mich ausschließlich auf Zähne zu konzentrieren. Und ich habe meinen Entschluss kein einziges Mal bereut. Physiotherapeutin passt zu mir.
Das First Fit Physio Studio ist zu Fuß genau achtzehn Minuten von meiner Wohnung in Balham entfernt, gleich hinter Costa Coffee, neben dem Bäcker Greggs. Es ist nicht die tollste Praxis der Welt – wahrscheinlich könnte ich mehr verdienen, wenn ich in einem schicken Sportcenter oder einem großen Krankenhaus arbeiten würde. Aber ich bin schon da, seit ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, und kann mir gar nicht vorstellen, irgendwo anders zu arbeiten. Außerdem arbeite ich mit Freundinnen zusammen. Das gibt man einfach nicht so schnell auf, oder?
Ich trudele um neun Uhr ein und gehe davon aus, dass wir heute wie üblich Personalbesprechung haben. Das machen wir jeden Donnerstagmorgen, um über Patienten und Heilungsziele, über neuartige Therapien, neueste Forschungsergebnisse und solche Sachen zu sprechen. 24 Es gibt da eine bestimmte Patientin, über die ich gern sprechen würde: Mrs. Randall, meine süße Fünfundsechzigjährige mit dem Bänderproblem. Sie ist mehr oder weniger wiederhergestellt – aber letzte Woche war sie zweimal da, und diese Woche hat sie drei Termine vereinbart. Ich habe ihr gesagt, sie muss nur zu Hause mit ihren DynaBands üben, aber sie besteht auf meiner Hilfe. Ich glaube, sie ist richtig abhängig von uns geworden, was gut für unser Portemonnaie ist, aber nicht gut für sie.
Also freue ich mich eigentlich auf die Besprechung. Zu meiner Überraschung jedoch sieht das Besprechungszimmer anders aus als sonst. Der Tisch ist ans eine Ende geschoben worden mit zwei Stühlen dahinter – und ein einzelner Stuhl steht vor dem Tisch, mitten im Raum. Es sieht aus wie bei einem Bewerbungsgespräch.
Die Eingangstür bimmelt und vermeldet, dass jemand hereingekommen ist. Ich sehe Annalise mit einem Tablett von Costa Coffee in Händen. Sie hat ihre langen blonden Haare zu einem komplizierten Arrangement geflochten und sieht aus wie eine griechische Göttin.
»Hi, Annalise! Wie geht’s?«
»Du solltest mal mit Ruby sprechen.« Sie wirft mir einen Seitenblick zu, ohne zu lächeln.
»Worüber?«
»Das darf ich nicht sagen.« Sie nimmt einen Schluck von ihrem Cappuccino und mustert mich heimlich über den Becherrand hinweg.
Was ist denn hier los? Annalise ist etwas empfindlich, manchmal sogar kindisch. Hin und wieder wird sie ganz still und schmollt, und dann stellt sich raus, dass man sie gestern zu ungeduldig um eine Patientenakte gebeten und sie damit verletzt hat.
Ruby ist genau das Gegenteil. Sie hat weiche Caffè-Latte-farbene Haut, eine mächtige, mütterliche Brust und ist dermaßen randvoll mit gesundem Menschenverstand, dass er ihr förmlich aus den Ohren quillt. In ihrer Nähe fühlt man sich gleich gesünder, ruhiger, fröhlicher und stärker. Kein Wunder, dass unsere Physiopraxis ein Erfolg ist. Ich meine, das, was Annalise
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