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Kein Land für alte Männer

Kein Land für alte Männer

Titel: Kein Land für alte Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cormac McCarthy
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unter der Brücke hindurchfloss, blieb er stehen und blickte darauf hinab. Bis zu der mexikanischen Zollbaracke war es nur ein kurzes Stück. Er blickte die Brücke entlang zurück, aber die drei waren verschwunden. Nach Osten hin ein körniges Licht. Über den niedrigen schwarzen Hügeln jenseits der Stadt. Das Wasser unter ihm in langsamer, dunkler Bewegung. Irgendwo ein Hund. Stille. Nichts.
Entlang der amerikanischen Seite des Flusses unter ihm zog sich ein hoher Carrizzo-Bestand hin. Moss stellte die Tasche ab, packte den Aktenkoffer an den Griffen, schwang ihn hinter sich und schleuderte ihn über das Geländer in den leeren Raum hinaus.
Weißglühender Schmerz. Er hielt sich die Seite und sah zu, wie sich der Koffer im schwindenden Licht der Brückenlaternen langsam drehte, geräuschlos in das Schilfdickicht fiel und verschwand. Dann sank er aufs Pflaster und saß, das Gesicht gegen den Maschendraht gedrückt, in der sich langsam bildenden Blutlache. Hoch, sagte er. Hoch mit dir, verdammt.
Als er die Zollbaracke erreichte, war niemand dort. Er schob sich durch den Durchgang in die Stadt Piedras Negras, Bundesstaat Coahuila.
Die Straße hinauf gelangte er in einen kleinen Park oder Zocalo, wo die Stärlinge in den Eukalyptusbäumen gerade erwachten und zu rufen begannen. Die Bäume waren bis auf Mannshöhe weiß gestrichen, sodass es aus einiger Entfernung so wirkte, als wäre der Park mit willkürlich angeordneten Pfosten besetzt. In der Mitte eine Art schmiedeeiserner Laube oder Musikpavillon. Die Tasche neben sich, sackte er auf einer der schmiedeeisernen Bänke zusammen und beugte sich, die Arme um sich gelegt, vornüber. An den Laternenpfählen hingen Kugeln orangefarbenen Lichts. Die Welt entschwand. Gegenüber dem Park stand eine Kirche. Sie schien weit weg. Auf den Ästen über ihm kreischten und schwankten die Stärlinge, und der Tag kam.
Er stützte sich mit einer Hand auf der Bank ab. Übelkeit. Nicht hinlegen.
Keine Sonne. Bloß das heraufdämmernde graue Licht. Die Straßen nass. Die Geschäfte geschlossen. Eiserne Rollläden. Ein alter Mann, der den Weg fegte, kam näher. Er blieb stehen. Dann ging er weiter.
Señor, sagte Moss.
Bueno, sagte der alte Mann.
Sprechen Sie Englisch?
Den Besenstiel in beiden Händen, musterte er Moss. Er zuckte die Achseln.
Ich brauche einen Arzt.
Der Alte wartete auf mehr. Moss hievte sich hoch. Die Bank war blutig. Ich bin angeschossen worden, sagte er.
Der Alte musterte ihn. Er schnalzte mit der Zunge. Er wandte den Blick ab, der Morgendämmerung entgegen. Bäume und Gebäude nahmen Form an. Er wandte sich wieder Moss zu und ruckte mit dem Kinn. Puede andar?, fragte er.
Was?
Puede caminar? Mit im Handgelenk locker abgeknickter Hand ahmte er mit den Fingern Gehbewegungen nach.
Moss nickte. Eine Welle von Schwärze überkam ihn. Er wartete, bis sie vorüber war.
Tiene dinero? Der Parkarbeiter rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.
Si, sagte Moss. Si. Er stand auf und blieb schwankend stehen. Er nahm das blutdurchtränkte Geldscheinbündel aus der Manteltasche und entnahm ihm einen Hundertdollarschein, den er dem Alten reichte. Der Alte nahm ihn mit großer Ehrfurcht. Er sah Moss an, dann lehnte er den Besen gegen die Bank.
Als Chigurh die Treppe hinunter und zur Eingangstür des Hotels hinauskam, hatte er ein Handtuch um seinen rechten Oberschenkel geschlungen und mit Stücken von Jalousiekordel festgeknotet. Das Handtuch war bereits durchgeblutet. Er hatte eine kleine Tasche in der einen und eine Pistole in der anderen Hand.
Der Cadillac stand schräg auf der Kreuzung, und auf der Straße fielen Schüsse. Er trat rückwärts in die Tür des Friseursalons. Das Rattern von automatischem Gewehrfeuer und das tiefe, kräftige Knallen einer Schrotflinte hallten von den Fassaden wider. Die Männer auf der Straße trugen Regenmäntel und Tennisschuhe. Sie sahen nicht wie Leute aus, auf die man in diesem Teil des Landes zu stoßen erwartete. Er humpelte die Verandatreppe wieder hinauf, zielte mit der Pistole über die Balustrade und eröffnete das Feuer auf die Männer.
Bis sie dahintergekommen waren, woher die Schüsse kamen, hatte er einen getötet und einen zweiten verwundet. Der Verwundete suchte hinter dem Wagen Deckung und schoss auf das Hotel. Chigurh drückte sich mit dem Rücken an die Backsteinwand und führte ein frisches Magazin in die Pistole ein. Die Schüsse zertrümmerten das Glas der Türflügel und ließen die Rahmen splittern. Das Licht im Foyer ging aus.

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