Kein Land für alte Männer
Auf der Straße war es noch so dunkel, dass man die Mündungsblitze sehen konnte. Als eine kurze Feuerpause eintrat, drehte sich Chigurh um und schob sich in die Eingangshalle, während unter seinen Stiefeln Glasscherben knirschten. Er hinkte den Flur entlang und die Treppe auf der Rückseite des Hotels hinunter auf den Parkplatz.
Er überquerte die Straße, ging die Jefferson hinauf und hielt sich dabei, um Eile bemüht und das verbundene Bein zur Seite ausschwingend, an der Nordwand der Gebäude. Das Ganze lag nur einen Häuserblock vom Maverick County Courthouse entfernt, und er nahm an, dass ihm allenfalls Minuten blieben, bis Verstärkungen eintreffen würden.
Als er an der Ecke anlangte, stand auf der Straße nur ein einziger Mann. Er befand sich am Heck des völlig zerschossenen Wagens, dessen Scheiben sämtlich zersplittert oder blind geworden waren. Drinnen lag mindestens ein Toter oder Verwundeter. Der Mann beobachtete das Hotel, und Chigurh hob die Pistole und schoss zweimal auf ihn, worauf der Mann zu Boden ging. Chigurh zog sich hinter die Gebäudeecke zurück und wartete, die Pistole mit nach oben gerichtetem Lauf an seiner Schulter. In der kühlen Morgenluft der scharfe Geruch von Schießpulver. Wie von einem Feuerwerk. Nirgendwo ein Geräusch.
Als er auf die Straße hinaushumpelte, kroch einer der Männer, auf die er von der Hotelveranda aus geschossen hatte, auf den Bürgersteig zu. Chigurh sah ihm einen Moment lang zu. Dann schoss er ihn in den Rücken. Der andere lag bei der vorderen Stoßstange des Wagens. Er war am Kopf getroffen worden, und das dunkle Blut bildete eine Lache um ihn herum. Seine Waffe lag neben ihm, aber Chigurh beachtete sie nicht.
Er ging zum Heck des Wagens, stieß den Mann dort mit der Stiefelspitze an, bückte sich dann und hob die Maschinenpistole auf, mit der der andere geschossen hatte. Es war eine kurzläufige Uzi mit einem Magazin für fünfundzwanzig Schuss. Chigurh durchsuchte die Regenmanteltaschen des Toten und fand drei weitere Magazine, eines davon voll. Er verstaute sie in seiner Jackentasche, steckte sich die Pistole vorn in den Hosenbund und überprüfte den Ladezustand des Magazins, das in der Uzi steckte. Dann hängte er sich die Waffe über die Schulter und humpelte zum Bürgersteig zurück. Der Mann, den er in den Rücken geschossen hatte, lag da und beobachtete ihn. Chigurh blickte die Straße entlang in Richtung Hotel und Gerichtsgebäude. Die hohen Palmen. Er sah den Mann an. Der Mann lag in einer langsam größer werdenden Blutlache.
Hilf mir, sagte er. Chigurh zog die Pistole aus dem Hosenbund. Er sah dem Mann in die Augen. Der Mann wandte den Blick ab.
Sieh mich an, sagte Chigurh.
Der Mann sah ihn an und wandte erneut den Blick ab.
Sprichst du Englisch? Sieh nicht weg. Ich will, dass du mich ansiehst.
Er sah Chigurh an. Er sah den fahl heraufdämmernden neuen Tag. Chigurh schoss ihm in die Stirn und blieb dann stehen und sah zu. Sah zu, wie die Kapillargefäße in den Augen platzten. Wie das Licht schwand. Sein eigenes Bild in dieser verkommenen Welt verfiel. Er schob die Pistole in den Hosenbund und warf einen letzten Blick zurück. Dann hob er die Tasche auf, hängte sich die Uzi über die Schulter, überquerte die Straße und humpelte weiter auf den Hotelparkplatz, wo er seinen Wagen hatte stehenlassen.
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V
Wir sind aus Georgia hierhergekommen. Unsere Familie, mein ich. Mit Pferd und Wagen. Das weiß ich ziemlich sicher. Ich weiß, in Familiengeschichten gibt’s eine Menge Sachen, die einfach nicht stimmen. Bei jeder Familie. Die Geschichten werden überliefert, und die Wahrheit wird übergangen, wie’s so schön heißt.
Mancher würd das wohl so verstehen, dass die Wahrheit nicht konkurrenzfähig ist. Aber das glaub ich nicht. Ich glaube, wenn die Lügen alle erzählt und vergessen sind, wird die Wahrheit immer noch da sein. Die bewegt sich nicht von Ort zu Ort und ändert sich auch nicht von Zeit zu Zeit. Man kann sie genauso wenig verdrehen, wie man Salz salzen kann. Man kann sie nicht verdrehen, weil sie nun mal so ist, wie sie ist. Eben das, was man mit dem Wort meint. Irgendwo wird sie mit dem Fels verglichen – vielleicht in der Bibel –, und damit bin ich durchaus einverstanden. Aber sie wird noch da sein, wenn der Fels längst verschwunden ist. Bestimmt gibt’s Leute, die da anderer Meinung sind. Sogar eine ganze Menge. Aber ich bin nie dahintergekommen, was die dann eigentlich glauben.
Man hat immer versucht, für
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