Kein Lebenszeichen
Aluminiumfolie eingewickelte Servierplatte entgegen. Ihr Blick war gesenkt, als platzierte sie eine Opfergabe vor dem Altar. Einen Moment lang erstarrte ich und wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie blickte auf. Unsere Blicke trafen sich – genau wie vor zwei Tagen, als ich bei ihnen am Bordstein gestanden hatte. Der Schmerz in ihren Augen wirkte sehr akut, fast elektrisiert. Ich fragte mich, ob sie in meinen Augen dasselbe sah.
»Ich dachte nur …«, setzte sie an. »Ich meine, ich wollte …«
»Bitte«, sagte ich. »Kommen Sie doch rein.«
Sie versuchte zu lächeln. »Danke.«
Mein Vater kam aus der Küche und fragte: »Wer ist da?«
Ich wich zurück. Mrs Miller hielt die Servierplatte immer noch wie zum Schutz vor sich und trat näher. Die Augen meines Vaters wurden groß, und ich sah, wie hinter ihnen etwas zersprang.
Seine Stimme war nur noch ein wutverzerrtes Flüstern. »Was willst du hier?«
Mrs Miller senkte den Kopf.
»Dad«, sagte ich.
Er beachtete mich nicht. »Ich hab dich was gefragt, Lucille. Was willst du hier?«
Mrs Miller senkte den Kopf.
»Dad«, wiederholte ich eindringlicher.
Doch es half nichts. Seine Augen waren klein und schwarz geworden. »Ich will dich hier nicht sehen«, sagte er.
»Dad, sie ist gekommen, weil sie uns …«
»Raus.«
»Dad!«
Mrs Miller zuckte zurück. Sie drückte mir die Servierplatte in die Hand. »Ich geh lieber, Will.«
»Nein«, sagte ich. »Bleiben Sie.«
»Ich hätte nicht kommen sollen.«
Dad schrie: »Da hast du verdammt Recht. Du hättest nicht kommen sollen.«
Ich warf ihm einen bösen Blick zu, was er jedoch nicht sah, weil er sie noch immer unverwandt anstarrte.
Mit gesenkten Augen sagte Mrs Miller: »Mein Beileid.«
Aber mein Vater war noch nicht fertig. »Sie ist tot, Lucille. Das nützt jetzt nichts mehr.«
Daraufhin floh Mrs Miller. Ich stand wie angewurzelt mit der Servierplatte in der Hand da und sah meinen Vater ungläubig an. Er erwiderte den Blick und sagte: »Schmeiß den Scheiß weg.«
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte Mrs Miller folgen und mich entschuldigen, aber sie ging sehr schnell und war schon fast an der Ecke. Mein Vater war wieder in der Küche verschwunden. Ich folgte ihm und knallte die Platte auf den Tresen.
»Was sollte das?«, fragte ich.
Er nahm seine Cola Light. »Ich will sie hier nicht sehen.«
»Sie war hier, um Mutter die letzte Ehre zu erweisen.«
»Sie war hier, um sich von ihrer Schuld reinzuwaschen.«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Deine Mutter ist tot. Sie kann nichts mehr für sie tun.«
»Das ist doch Unsinn.«
»Deine Mutter hat Lucille angerufen. Wusstest du das? Kurz nach dem Mord. Sie wollte ihr ihr Beileid aussprechen. Lucille hat ihr gesagt, sie soll sich zum Teufel scheren. Sie hat uns vorgeworfen, wir hätten einen Mörder aufgezogen. Das hat sie gesagt. Es sei unsere Schuld. Wir hätten einen Mörder aufgezogen.«
»Das ist elf Jahre her, Dad.«
»Hast du irgendeine Vorstellung, was das bei deiner Mutter angerichtet hat?«
»Ihre Tochter war gerade ermordet worden. Sie stand unter Schock.«
»Und da muss sie bis jetzt warten, um das wieder einzurenken? So lange, bis es nichts mehr nützt?« Er schüttelte den Kopf. »Ich will nichts davon hören. Und deine Mutter, die kann’s nicht mehr hören.«
Dann wurde die Haustür geöffnet. Tante Selma und Onkel Murray traten mit bekümmertem Lächeln ein. Tante Selma ging in die Küche. Onkel Murray machte sich an dem lockeren Wandpaneel zu schaffen, das ihm am Vortag aufgefallen war.
Und mein Vater und ich hörten auf zu reden.
17
Special Agent Claudia Fisher nahm Haltung an und klopfte an die Tür.
»Herein.«
Sie drehte den Knauf und betrat das Büro des stellvertretenden Direktors Joseph Pistillo. Der stellvertretende Direktor leitete das New Yorker Büro. Abgesehen vom Direktor in Washington war er der hochrangigste und mächtigste Agent beim FBI.
Pistillo blickte auf. Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. »Was ist?«
»Sheila Rogers wurde tot aufgefunden«, meldete Fisher.
Pistillo fluchte kurz. »Wo und wie?«
»Sie wurde am Straßenrand in Nebraska entdeckt. Ohne Papiere. Die dortige Polizei hat die Fingerabdrücke durch die NCIC gejagt. Es waren ihre.«
»Scheiße.«
Pistillo kaute ein Stück Nagelhaut ab.
»Ich möchte eine Identifikation durch Augenschein«, sagte er.
»Schon erledigt.«
»Was?«
»Ich war so frei, Sheriff Farrow das Fahndungsfoto von Sheila Rogers zu mailen.
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