Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
gesorgt.
»Sie haben Angst.«
»Wovor?«
Ians Blick war noch immer starr aus dem Fenster gerichtet, und als hätte er sie nicht gehört, sagte er: »Ich möchte Sie wiedersehen.«
Ein Dutzend höflicher Zurückweisungen, die Mrs Barrington ihr eingebläut hatte, kamen ihr kurz in den Sinn, doch sie sagte: »Ja, ich würde Sie auch gern wiedersehen.«
»Ich lasse Ihnen eine Nachricht durch Curry zukommen.«
»Dieser Mister Curry scheint ja für vieles gut zu sein!«
Doch Ian hatte nicht zugehört. »Die Opernsängerin«, sagte er.
Beth blinzelte verunsichert. »Wie bitte?« Dann erinnerte sie sich an den Zeitungsartikel, den sie am Tag ihrer Begegnung mit Mac gelesen hatte. »Oh, diese Opernsängerin meinen Sie.«
»Ich hatte Cameron gebeten, sich zum Schein mit mir um sie zu streiten. Damit wollte ich die Aufmerksamkeit von Ihnen ablenken. Mein Bruder hat es gern getan, er hat sich regelrecht amüsiert.«
Es war den Leuten damals also nicht entgangen, dass Beth in der Loge der MacKenzies verschwunden und anschließend in Begleitung Ians in Camerons Kutsche davongefahren war. Ian hatte diese öffentliche Schlägerei angezettelt, um die Aufmerksamkeit von Beth auf die für ihre Affären berüchtigten MacKenzie-Brüder zu lenken.
»Dabei wirkte die Geschichte so glaubhaft.«
»So hat es sich aber nicht zugetragen.«
»Das wird mir gerade klar, und es verschlägt mir die Sprache.«
»Warum sollte es Ihnen die Sprache verschlagen?«
»Mein lieber Lord, einer Gesellschafterin erspart man keinen Skandal. Sie ist fade und langweilig und ist selbst schuld, wenn kein Mann sie heiraten will.«
»Wer zum Teufel hat Ihnen denn solch einen Unsinn erzählt?«
»Die gute Mrs Barrington, auch wenn sie sich vielleicht anders ausgedrückt hat. Ich sollte mich sittsam und unauffällig geben. Dabei hatte sie nur mein Bestes im Sinn. Mrs Barrington wollte mich schützen, verstehen Sie das nicht?«
»Nein.« Sein Blick war auf eine Locke über ihrem Ohr gerichtet. »Das verstehe ich nicht.«
»Schon gut, das müssen Sie auch nicht.«
Ian schwieg und schien tief in Gedanken versunken. Dann sah er Beth unvermittelt an, presste sie an sich und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund.
Bevor sie auch nur Atem schöpfen konnte, hatte er das Zimmer schon verlassen. Ihre Lippen brannten, und sie verharrte reglos, bis ein kühler Luftzug und das Schlagen der Haustür verkündeten, dass er fort war.
»Wie wundervoll, Chérie!«, sagte Isabella am Abend desselben Tages und streckte den Arm aus, damit ihr die Zofe den Handschuh überziehen konnte. »Du und Ian.« Ihre grünen Augen zwinkerten vergnügt, dennoch lagen tiefe Schatten auf ihrem Antlitz. »Ich freue mich sehr.«
»Nichts daran ist wundervoll«, widersprach Beth. »Höchstens skandalös.«
Isabella bedachte sie mit einem wissenden Lächeln. »Jedenfalls brenne ich darauf, mehr darüber zu erfahren.«
»Wirst du denn nicht auf dem Ball erwartet, Isabella?«
Isabella küsste Beth rechts und links auf die Wange und hüllte sie in eine Parfümwolke. »Macht es dir auch wirklich nichts aus, dass ich ausgehe? Ich mag es nicht, dich allein zu lassen.«
»Nein, nein. Amüsier dich nur. Ich bin müde und habe gern ein paar Stunden für mich.«
Beth sehnte sich nach einem ruhigen Abend und fühlte sich heute dem kritischen Blick der Pariser Gesellschaft nicht gewachsen, nicht einmal in Isabellas Begleitung. Isabella kannte wirklich jeden in dieser Stadt und hatte Beth überschwänglich allen vorgestellt. Dabei hatte sie angedeutet, dass Beth eine geheimnisvolle englische Erbin sei, und das kam bei den Malern, Schriftstellern und Dichtern, die sich um Isabella geschart hatten, gut an.
Heute Abend war Beth bereit, auf all den Glanz zu verzichten. Sie würde Tagebuch schreiben und sich dann erotischen Fantasien über Ian hingeben. Dabei war es ihr gleich, dass ihr solche Fantasien nicht zustanden.
Nachdem Isabella gegangen war, bat Beth den Butler, ihr auf dem Zimmer ein kaltes Abendessen zu servieren. Dann nahm sie einen Federhalter zur Hand und fing mit ihren Tagebucheintragungen an.
Sie hatte damit begonnen, ihre Erlebnisse in Paris niederzuschreiben, wann immer sie die Zeit dazu fand. Während sie die Reste der Fleischpastete vertilgte, blätterte sie zu den leeren Seiten nach dem letzten Eintrag.
Ich bin mir meiner Gefühle ihm gegenüber nicht sicher , schrieb sie. Seine Hände sind groß und kräftig, und ich habe mir sehnlichst gewünscht, er möge sie
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