Kein Mann für eine Nacht: Roman (German Edition)
hinter dem Laufsteg fokussierten sich auf ein Bühnenbild hinter einem dünnen Gazevorhang, was der Szene etwas gespenstisch Entrücktes gab. Die Requisiten – ein schmiedeeisernes Geländer, ein Laternenmast, der Schatten von Palmwedeln und ausgezackten Fensterläden – stellten einen schäbigen Hinterhof in New Orleans an einem heißen Sommerabend dar.
Schemenhaft wurden die Models in ihren durchschimmernden Gewändern erkennbar – ihre Ellbogen und Knie dramatisch angewinkelt, ähnlich den Figuren auf den Gemälden von Thomas Hart Benton. Einige hielten Palmfächer in die Luft. Eine beugte sich vor und ließ ihr Haar über den Boden schleifen wie die Zweige einer Weide, eine Bürste malerisch in ihrer Hand drapiert. Ein Raunen ging durch die Menge, Fleur fing vielsagende Seitenblicke auf. Man schien skeptisch, woher der Wind wehte.
Unvermittelt löste sich eine Silhouette von den anderen und trat in einen See aus irisierend blauem Licht. Einen Herzschlag lang fixierte sie das Publikum, schlug dann die Augen nieder, als überlegte sie noch, ob sie sich den Anwesenden anvertrauen sollte oder nicht. Schließlich begann sie zu erzählen. Sie erzählte ihnen von Belle Reve, der Plantage, die sie verloren hatte, und von Stanley Kowalski, dem Unmenschen, den ihre geliebte Schwester Stella geheiratet hatte. Ihre Stimme war aufgewühlt, ihre Miene zerrissen. Als sie schwieg, hob sie die Hand, eine stumme Bitte um Verständnis. Das schwermütige Bluesstück setzte wieder ein. Niedergeschlagen glitt sie in das Dunkel des Laufstegs zurück.
Alle schwiegen betreten, dann setzte frenetischer Beifall ein. Kissys eigenwilliger Monolog als Blanche DuBois in Endstation Sehnsucht riss das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Charlie seufzte erleichtert auf. »Sie lieben sie, nicht?«
Sie nickte und hielt den Atem an, betete, dass Michels Kollektion genauso gut ankommen würde. Trotz Kissys inspirierender Darbietung drehte sich letztendlich doch alles um Mode.
Dann wurde die Musik temporeicher, und die Models lösten sich aus ihrer Starre; eines nach dem anderen trat hinter dem transparenten Vorhang hervor und defilierte über den Laufsteg. Sie trugen leichte Sommerkleider, die Erinnerungen an duftende Blüten, heiße Strandnächte und unerfüllte Sehnsüchte wachriefen. Die Linie war weich und feminin, ohne verspielt zu wirken – Mode für Frauen, die strenge Herrenschnitte satthatten. So etwas sorgte in New York seit Jahren wieder für Furore.
Fleur lauschte auf das Gemurmel ringsum und das unablässige Kratzen der Stifte auf den Klemmbrettern. War der Applaus bei den ersten Kleidern noch höflich gedämpft, so steigerte er sich mit jeder weiteren von Michels bezaubernden Kreationen.
Als das letzte Model den Laufsteg verließ, entwich Charlie ein langer, gepresster Atemzug. »Puh, das ging unter die Haut.«
Ihre Finger verkrampften sich, und Fleur stellte fest, dass sie sie in sein Knie gegraben hatte. »Wart mal ab, was noch kommt.«
Zwei weitere Szenerien folgten, und beide wurden von den Anwesenden begeistert aufgenommen. Eine feuchtheiße Regenwaldkulisse, vor der Kissy einen zweiten Monolog darbot, bildete den Hintergrund für lässige Freizeitmode mit bunten exotischen Blütendrucken. Am Schluss spielte Kissy ihre faszinierende Rolle als Maggie die Katze vor der Silhouette eines riesigen Messingbetts. Es war der Auftakt zu einem Defilee fantasievoller Abendroben, die Bilder köstlicher Dekadenz vorgaukelten und das Publikum von den Stühlen rissen.
Als die Show vorbei war, erhielten Michel und Kissy Standing Ovations. Beide hatten endlich die öffentliche Anerkennung gefunden, die sie seit langem verdienten. Es war Fleurs grandioser Einfall gewesen, schließlich war Kissy ihre weltallerbeste Freundin. Zudem hatte sie noch etwas gutzumachen bei Michel, den sie unsinnigerweise jahrelang angefeindet hatte. Als sie Charlie umarmte, war ihr klar, dass der Erfolg ihrer beiden Klienten auch ihre Karriere beeinflussen würde. Der heutige Nachmittag hatte ihrer Kompetenz enormen Auftrieb gegeben.
Während das Publikum sie bestürmte, gewahrte sie aus dem Augenwinkel heraus, dass Jake sich in Richtung Ausgang trollte. Bevor er aus dem Ballsaal glitt, hielt er in einer anerkennenden Geste den Daumen hoch.
Eine hektische Woche mit Telefonanrufen und Interviews folgte. Women’s Wear Daily brachte unter der Headline »Die neue Weiblichkeit« eine Titelreportage von Michels Kollektion. Etliche Modejournalisten
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