Kein Opfer ist vergessen
Speisekarten und drei Gläser Wasser. Sie lächelte Rodriguez auf eine Weise an, die mir verriet, dass er hier nicht zum ersten Mal war.
Ich nahm einen Schluck Wasser. Es war warm. Zuoberst schwamm eine dünne Schicht, die Eis gewesen sein könnte. Die Kellnerin kehrte mit einer Schale Chips und einem Töpfchen Salsa zurück. Ich bestellte Chicken Tacos mit Reis und eine Cola, Z nahm ein Glas Eistee und Rodriguez eine Horchata.
»Bin ich immer noch festgenommen?«, fragte ich und langte nach der Schale mit den Chips. Mein Blick fiel auf die Wanduhr. Ich hatte keine Ahnung, ob sie richtig ging, aber sie zeigte 03 : 15 Uhr.
»Sie wurden nie festgenommen«, sagte Z. »Oder wenn, wäre mir das neu.«
»Es wurde auch keine Anklage erhoben«, ergänzte Rodriguez. »Es gibt nicht einmal ein Protokoll über das, was heute vorgefallen ist.«
»Und was ist heute vorgefallen?«, erkundigte ich mich.
»Fangen wir mal mit dem vergangenen Abend an«, schlug Z vor.
»Meinetwegen.«
»Waren Sie in Sarahs Wohnung?«
»Haben Sie die Fotos gesehen?«
Z nickte.
»Warum fragen Sie dann?«
Rodriguez rührte sein Getränk um und trank einen Schluck. »Ian, beruhigen Sie sich.«
»Ich bin ruhig.«
Die Kellnerin brachte meine Tacos. Rodriguez wartete, bis ich ein paar Bissen gegessen hatte, ehe er fragte: »Warum waren Sie vor Sarahs Haus?«
»Das geht nur mich was an.«
»Trotzdem wäre es besser, Sie würden es uns sagen.«
»Wie kommt es, dass sich das hier noch immer wie ein Verhör anfühlt?«
»Der Detective versucht nur, Ihnen zu helfen«, sagte Z.
»Wie komisch, dass mir plötzlich jedermann helfen will.« Ich legte meine Gabel ab, mir war der Appetit vergangen. »Wie geht es ihr?«
»Sie wird sich wieder erholen«, antwortete Rodriguez.
»Warum glauben Sie, dass ich sie nicht angegriffen habe?«
»Wer sagt denn, dass ich das glaube?«
»Dann denken Sie also, ich hätte es getan.««
»Das denkt keiner von uns«, sagte Z.
»Bei allem Respekt«, entgegnete ich. »Aber Sie sind hier nicht die Person mit der Dienstmarke.«
Bis auf uns drei und die Kellnerin war das Restaurant leer. Der Verkehr, der draußen vorbeirauschte, wurde lauter, und von irgendwoher drang aus einem Radio spanisch klingende Musik.
»Für mich waren Sie zur falschen Zeit am falschen Ort«, sagte Rodriguez. »Sie könnten es immer noch sein.«
»Was soll das heißen?«
Rodriguez warf ein paar Dollarscheine auf den Tisch. »Professor Zombrowski fährt nach Evanston zurück. Ich werde mir noch ein bisschen mehr Durchblick verschaffen, und Sie ziehen bis auf Weiteres den Kopf ein.«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«
»Wir suchen Ihnen einen sicheren Ort.« Rodriguez stand auf. »Kommen Sie, es ist besser, wenn wir verschwinden.«
Auf der Straße warf ich einen Blick durch das Fenster. Die Kellnerin saß im grellen Licht in unserer Ecke, aß ein paar übrig gebliebene Chips und trank den Rest der Horchata.
SIEBENUNDDREISSIG
»Soll das etwa der sichere Ort sein?«, fragte ich.
Wir durchquerten einen kleinen schmuddeligen Gang zu einer Metalltür, hinter der das Hauptgeschäft des Leichenschauhauses von Cook County erledigt wurde.
»Ich möchte, dass Sie hier mit jemandem sprechen«, sagte Rodriguez. »Das bleibt aber bitte unter uns.«
Also wurde schon wieder irgendetwas gespielt, doch ich war an einem Punkt angelangt, an dem es mich nicht mehr kümmerte. Ein Besuch im Leichenschauhaus war wenigstens eine Stufe höher, als die Nacht bei Randall in der Zelle zu verbringen. Auf dem Tastenfeld neben der Tür gab Rodriguez eine Kombination ein, und die Tür öffnete sich zu einem lang gestreckten, grau gestrichenen Raum, der wie eine blitzblank gescheuerte Werkstatt aussah. Ich rechnete mit irgendeinem Geruch, doch das Einzige, was ich wahrnahm, war ein ganz leichter Geschmack von Chemikalien auf der Zunge, die Kälte, die bis auf die Knochen drang, und das bläuliche Licht, das von großen Deckenleuchten auf drei Untersuchungstische fiel. Die Tische waren aus Edelstahl, mit einer umlaufenden Rinne auf dem Boden, die jeweils in einen Ausguss mündeten. An der Stirnseite jedes Tisches befand sich eine Nackenstütze, die vermutlich den Kopf eines Toten hielt, und am Fußende war ein Becken. Zwei Tische waren leer. Auf dem dritten lag eine Leiche unter einem weißen Laken. An einer Wand stand Sam Moncata und studierte eine Aufnahme an einer Leuchttafel. Als er uns sah, schaltete er die Leuchttafel aus.
»Hallo, Vince.« Moncata
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