Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber Sophia tat, als bemerke sie nichts.
Das Holztor stand offen, und sobald sie ins Freie trat, empfand sie eine riesige Erleichterung. Die frische Herbstluft fühlte sich auf ihrer Haut wie kühler Balsam an. Sie hatte gar nicht richtig wahrgenommen, wie heiß es in der Scheune war. Jetzt sah sie sich um in der Hoffnung, ein Plätzchen zum Sitzen zu finden. Seitlich entdeckte sie eine dicke Eiche, deren knorrige Äste sich in alle Richtungen erstreckten, und hier und da standen Leute in Grüppchen zusammen, rauchten und tranken. Es dauerte einen Moment, bis Sophia bemerkte, dass sie sich auf einer Wiese befanden, die ringsum von einem Holzzaun umgeben war. Bestimmt war das früher mal eine Viehkoppel gewesen.
Tische gab es nicht. Die meisten Leute saßen auf dem Holzzaun oder lehnten daran, und eine Gruppe hockte auf einem alten Traktorreifen. Etwas abseits stand ein einzel ner Mann mit einem Cowboyhut und betrachtete die Nach barweide. Sein Gesicht lag im Schatten. Sophia überlegte versonnen, ob er wohl auch in Duke studierte, aber sie bezweifelte es. Irgendwie passten Cowboyhüte und die Duke-Universität einfach nicht zusammen.
Sie ging zu einem freien Zaunabschnitt ein paar Pfosten von dem Cowboy entfernt. Der Himmel über ihr war so klar wie eine Glasglocke, der Mond schwebte knapp über den Baumwipfeln. Sophia stützte die Ellbogen auf das raue Holz und nahm ihre Umgebung in sich auf. Rechts war die Rodeo-Arena, wo der Wettbewerb stattgefunden hatte, und direkt dahinter befanden sich einige kleine umzäunte Weiden, auf denen die Bullen standen. Zwar waren die Koppeln nicht beleuchtet, doch über der Tribüne brannten noch ein paar Scheinwerfer, die die Tiere in ein geisterhaftes Licht tauchten. Hinter den Pferchen parkten zwanzig oder dreißig Pick-ups und Wohnmobile, umringt von ihren Besitzern. Selbst aus der Entfernung konnte Sophia die glühenden Spitzen von Zigaretten erkennen und hin und wieder das Klirren von Flaschen hören. Sie fragte sich, wofür diese Arena wohl benutzt wurde, wenn das Rodeo nicht in der Stadt gastierte. Für Pferdeschauen? Hundeausstellungen? Jahrmärkte? Sie wirkte etwas marode, was darauf hindeutete, dass sie den Großteil des Jahres leer stand. Die windschiefe Scheune verstärkte diesen Eindruck noch, aber andererseits, was wusste sie schon? Sie war in New Jersey geboren und aufgewachsen.
Das zumindest hätte Marcia jetzt gesagt. Sie sagte das seit fast drei Jahren, und anfangs war es witzig gewesen, dann hatte es sich abgenutzt, und inzwischen war es wieder witzig, ein Running Gag zwischen ihnen beiden. Marcia kam aus Charlotte, nur ein paar Autostunden von Wake Forest entfernt. Sophia konnte sich noch gut an Marcias Verblüffung erinnern, als sie hörte, dass Sophia in Jersey City aufgewachsen war. Genauso gut hätte Sophia sagen können, sie käme vom Mond.
Sophia musste zugeben, dass Marcias Reaktion nicht völlig abwegig gewesen war. Ihre Elternhäuser hätten nicht unterschiedlicher sein können. Marcia war das jüngere von zwei Kindern, ihr Vater war Orthopäde, ihre Mutter eine auf Umwelt und Naturschutz spezialisierte Anwältin. Ihr älterer Bruder stand kurz vor seinem Juraexamen in Vanderbilt, und wenn die Familie auch nicht gerade auf der Forbes-Liste stand, so waren sie doch sehr gut situiert. Marcia gehörte zu den jungen Frauen, die früher Reit- und Tanzstunden gehabt und zu ihrem sechzehnten Geburtstag ein Mercedes-Cabrio geschenkt bekommen hatten. Sophia hingegen war das Kind von Einwanderern. Ihre Mutter war Französin, der Vater Slowake, und sie waren mit nur wenig Geld in Amerika eingetroffen. Die Eltern waren zwar gut ausgebildet – Sophias Vater war Chemiker und ihre Mutter Pharmazeutin –, aber ihre Englischkenntnisse waren damals noch begrenzt gewesen, weshalb sie sich jahrelang mit Hilfsarbeiten über Wasser halten mussten und in winzigen, heruntergekommenen Wohnungen lebten, bis sie genug gespart hatten, um einen eigenen Feinkostladen zu eröffnen. Währenddessen hatten sie noch drei weitere Kinder bekommen – Sophia war die Älteste –, und Sophia war es gewöhnt, ihren Eltern nach der Schule und an Wochenenden im Laden zu helfen.
Das Geschäft lief einigermaßen gut, das heißt, es reichte, um die Familie zu ernähren, aber nie viel mehr als das. Wie auch viele andere der besseren Schüler ihrer Klasse hatte Sophia bis wenige Monate vor ihrem Abschluss damit gerechnet, nach Rutgers zu gehen.
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