Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
verbringe, zu pflanzen oder Unkraut zu jäten oder zu wässern oder den Honig aus den Stöcken einzusammeln. Und an den öffentlichen Verkaufstagen muss ich da sein, um den Kunden behilflich zu sein. Und dann muss natürlich immer etwas repariert werden, ob der Trak tor oder der Zaun oder die Scheune oder das Hausdach.« Er zog eine bemitleidenswerte Grimasse. »Verlass dich drauf, es gibt immer was zu tun.«
»Das kannst du doch unmöglich alles allein machen«, sagte Sophia ungläubig.
»Stimmt. Meine Mutter erledigt auch ziemlich viel, und wir haben einen Helfer, der seit Jahren für uns arbeitet. José. Er übernimmt im Wesentlichen das, was wir nicht schaffen. Und wenn nötig, holen wir uns vorübergehend ein paar Leute dazu, die beim Beschneiden der Bäume helfen oder bei dem, was eben anliegt.«
Sie runzelte die Stirn. »Was soll das heißen, ›beim Beschneiden der Bäume‹? Meinst du die Weihnachtsbäume?«
»Natürlich! Die wachsen nicht von allein so hübsch in Dreiecksform. Man muss sie regelmäßig beschneiden, damit sie so wachsen.«
»Ehrlich?«
»Und man muss auch die Kürbisse drehen. Erstens, damit sie unten nicht verfaulen, und zweitens, damit sie rund oder zumindest oval werden, sonst kauft sie keiner.«
Sophia zog die Nase kraus. »Das wusste ich gar nicht.«
»Da bist du nicht allein. Aber dafür weißt du bestimmt vieles, was ich nicht weiß.«
»Du wusstest immerhin auch, wo die Slowakei liegt.«
»Geschichte und Geografie haben mich schon immer in teressiert. Aber wenn du mich nach Chemie oder Algebra fragst, habe ich sehr wahrscheinlich keine Ahnung.«
»Mathe mochte ich auch nicht so besonders.«
»Aber du konntest es gut. Ich wette, du warst eine der Besten in deiner Klasse.«
»Wie kommst du darauf?«
»Du bist in Wake Forest«, antwortete er. »Deshalb gehe ich mal davon aus, dass du in der Schule in jedem Fach super warst. Was studierst du?«
»Nicht Landwirtschaft, wie man merkt.«
Er ließ wieder seine Grübchen aufblitzen.
Sophia schabte mit dem Fingernagel am Zaun. »Mein Hauptfach ist Kunstgeschichte.«
»Hat dich das schon immer interessiert?«
»Überhaupt nicht«, sagte sie. »Als ich damals nach Wake kam, hatte ich keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, und habe deshalb die typischen Fächer belegt, die jeder Anfänger nimmt, in der Hoffnung, zufällig über das Richtige zu stolpern. Ich wollte etwas finden, das in mir ... eine Leidenschaft weckt, verstehst du?«
Sie machte eine kurze Pause und spürte, wie konzent riert und aufmerksam er ihr zuhörte. Sein aufrichtiges Inter esse erinnerte sie erneut daran, wie stark er sich von den Männern unterschied, die sie sonst kannte.
»Jedenfalls habe ich dann im zweiten Jahr einen Kurs über französischen Impressionismus belegt, hauptsächlich, weil er gut in meinen Stundenplan passte. Aber der Dozent war fantastisch – intelligent und interessant, alles, was man sich wünschen kann. Bei ihm wurde die Kunst lebendig und irgendwie relevant ... Und nach dem zweiten Kurs hat es bei mir einfach klick gemacht. Ich wusste plötzlich, was ich tun wollte, und je mehr Kunstgeschichtskurse ich belegt habe, desto klarer wurde mir, dass ich unbedingt Teil dieser Welt werden wollte.«
»Dann bist du froh, dass du diesen Kurs genommen hast, was?«
»Ja ... meine Eltern allerdings weniger. Sie wollten, dass ich Medizin oder Jura oder Betriebswirtschaft studiere. Irgendetwas, das hinterher zu einem Job führt.«
Er zupfte an seinem T-Shirt. »Soweit ich weiß, ist doch vor allem wichtig, überhaupt einen Abschluss zu ha ben. Wahrscheinlich kannst du später so ungefähr alles machen.«
»Das sage ich ihnen auch immer. Aber mein eigentlicher Traum ist, in einem Museum zu arbeiten.«
»Dann tu es.«
»So einfach ist das nicht. Es gibt haufenweise Kunstgeschichtler und nur eine Handvoll Stellen für Berufsanfänger. Dazu kommt noch, dass viele Museen finanziell zu kämpfen haben, was bedeutet, sie sparen am Personal. Ich hatte das Glück, ein Bewerbungsgespräch am Denver Art Museum zu bekommen. Die Stelle ist zwar unbezahlt, eher ein Praktikum, aber sie haben gesagt, es wäre möglich, dass später eine richtige daraus wird. Wobei natürlich die Frage offenbleibt, wovon ich leben soll, solange ich dort arbeite. Und von meinen Eltern will ich mich nicht länger unterstützen lassen. Das könnten sie sich auch gar nicht leis ten. Eine jüngere Schwester von mir ist in Rutgers, und die zwei anderen
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