Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
brauchten, leider war ich jedoch nicht so lange abkömmlich. Seit sich mein Vater nicht mehr vom Radio im Hinterzimmer fortbewegte, war ich im Geschäft unentbehrlich, und wir hatten mehr zu tun als je zuvor. Veteranen kauften sich Anzüge, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten, in der Hoffnung, eine Arbeit zu finden, wenn sie nur gut gekleidet waren. Die Firmen dagegen stellten nur zögerlich Leute ein, und wenn diese verzweifelten Männer in den Laden kamen, dachte ich an Joe Torrey und Bud Ramsey und tat für sie, was ich konnte. Ich überredete meinen Vater, günstige Anzüge mit geringer Gewinnspanne ins Sortiment zu nehmen, und meine Mutter änderte sie kostenlos. Unsere ge mäßigten Preise hatten sich herumgesprochen, und obwohl wir nun samstags nicht mehr geöffnet hatten, stieg der Um satz mit jedem Monat.
Dennoch konnte ich meine Eltern überreden, mir den Wagen zu leihen, um Ruth gegen Ende ihres Urlaubs zu besuchen, und so war ich an einem Donnerstagmorgen auf der Straße. Es war eine lange Fahrt, und während der letzten Stunde musste ich direkt über den Sand fahren. In den Nachkriegsjahren hatten die Outer Banks eine wilde, un gezähmte Schönheit. Sie waren von Familien besiedelt, die dort seit Generationen wohnten und vom Meer lebten. Riedgras sprenkelte die windzerzausten Dünen, und die Bäume sahen aus wie die verdrehten Töpferarbeiten eines Kindes. Hier und da entdeckte ich wilde Pferde, die die Köpfe hoben, als ich vorbeifuhr, und mit dem Schwanz die Fliegen verscheuchten. Auf der einen Seite lag das tosende Meer, auf der anderen lagen die Dünen, und ich kurbelte die Fenster hinunter, ließ alles auf mich wirken und fragte mich, was mich wohl an meinem Zielort erwarten würde.
Als ich schließlich in die Kieseinfahrt bog, stand die Sonne schon tief. Zu meiner Überraschung hielt Ruth auf der Veranda nach mir Ausschau, barfuß und in demselben Kleid, das sie jetzt trägt. Ich stieg aus dem Auto und konnte sie nur anstarren, so strahlend sah sie aus. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern, und ihr Lächeln schien ein Geheimnis zu bergen, das nur für uns beide bestimmt war. Als sie mir winkte, stockte mir kurz der Atem, denn ein winziger Diamant blitzte in den Strahlen der untergehenden Sonne auf – der Verlobungsring, der monatelang an ihrem Finger gefehlt hatte.
Für einen Moment war ich wie erstarrt, aber sie hüpfte unbeschwert die Stufen herunter und lief über den Sand auf mich zu. Als sie in meine Arme sank, roch sie nach Salz und Meer und Wind, ein Duft, den ich mein Leben lang mit ihr und diesem speziellen Wochenende verbunden habe. Ich zog sie dicht an mich, genoss es, ihren Körper zu spüren, und dachte darüber nach, wie sehr ich das in den vergangenen drei Jahren vermisst hatte.
»Ich bin froh, dass du da bist«, flüsterte sie mir ins Ohr, und nach einer langen und erfüllenden Umarmung küsste ich sie beim Klang der rauschenden Wellen. Als sie meinen Kuss erwiderte, wusste ich sofort, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte, und meine gesamte Welt wurde auf den Kopf gestellt.
Es war nicht unser erster Kuss, aber es ist mein Lieb lingskuss geworden, und zwar, weil er zu einem Zeitpunkt stattfand, an dem ich ihn am meisten brauchte, und er den Beginn einer der beiden wunderbarsten und umwälzendsten Phasen meines Lebens kennzeichnete.
J etzt im Auto lächelt Ruth mich an, wunderschön und hei ter in diesem Sommerkleid. Ihre Nasenspitze ist leicht gerötet, die Haare vom Wind zerzaust und nach Meeresbrise duftend.
»Daran erinnere ich mich gern«, sagt sie.
»Ich mich auch.«
»Ja, weil ich damals eine junge Frau war. Dickes Haar, keine Falten, nirgendwo schlaffe Haut.«
»Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
»Unsinn«, sagt sie auf Deutsch. »Natürlich habe ich mich verändert. Ich wurde alt, und es ist kein Spaß, alt zu sein. Vieles, was einem einmal leichtfiel, wird schwierig.«
»Du klingst schon wie ich«, bemerke ich, und sie zuckt mit den Schultern. Dann kommt sie wieder auf unsere Erinnerung zurück.
»Ich war so froh, dass du mit uns Urlaub machen konntest.«
»Ich bedaure, dass es nur für ein paar Tage war.«
Sie überlegt kurz, bevor sie antwortet. »Ich glaube, es war gut für mich, ein bisschen Zeit und Ruhe für mich zu haben. Meine Eltern wussten das offenbar auch. Es gab nicht viel Abwechslung, außer auf der Veranda zu sitzen, durch den Sand zu laufen und bei Sonnenuntergang ein Glas Wein zu trinken. Ich hatte viel Zeit
Weitere Kostenlose Bücher