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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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führte mit ihren Depressionen ein Doppelleben. Sie war nie anwesend, wenn sie bei uns war.
    »Er sah nicht einmal gut aus«, sagte Ruth.
    Er war hässlich, dachten sie. Aber den Frauen war das egal. Das Geld war ausschlaggebend, die Macht, über die er verfügte.
    »Er besaß ein Auto mit einem Chauffeur«, sagte Vika. »Das machte Eindruck auf die Weiber. Erst führte er sie zum Essen aus, dann ging er mit ihnen ins Bett.«
    Erst ließen sie sich von ihm zum Essen ausführen, dann ließen sie sich von ihm mit ins Bett nehmen, dachten sie. Die Männer wollen Sex haben, die Frauen wollen bewundert werden. Die Männer suchen sich junge hübsche Frauen, und die Frauen geben sich reichen charmanten Männern hin. Ein absehbares Spiel. Man muss sich die Männer nur anschauen, und schon weiß man, wie die ganze Geschichte mit ihnen laufen wird. Sie nennen es Liebe, aber es ist eine Farce.
    »Er hatte einen starken Willen«, sagte Ruth. »Er trug den Kopf hoch erhoben.«
    Das gefiel den Weibern, das imponierte ihnen, dachten sie.
    »Wir waren nicht anders«, sagte Vika.
    Wir erbten seinen starken Willen, dachten sie. Wir ließen den Kopf nicht hängen. Wenn wir keinen starken Willen besessen hätten, wären wir nicht von zuhause weggegangen.
    »Wir wurden nicht depressiv wie die Mutter«, sagte Ruth.
    Ihre weißen teigigen Wangen, dachten sie, ihr verschlossener Gesichtsausdruck, ihre trüben Blicke, ihr verkniffener Mund, ihr beleidigtes Schweigen.
    »Wir sind ja auch nicht verheiratet«, sagte Vika.
    Den Fehler haben wir nicht gemacht, dachte sie.
    »Den Fehler machten wir nicht«, sagte Ruth.
    »Weder einen Mann noch Kinder am Bein.«
    Sie lächelten sich zu wie zwei Überlebende, die einem Unglück unbeschadet entkommen waren.
    »Hongkong, Los Angeles, Florenz«, sagte Ruth.
    »Wir werden reisen.«
    Wenn sie wieder laufen kann, werden wir reisen, dachte Vika. Aber sie wird nicht wieder laufen können. Solange ich für uns alle Besorgungen erledige, wird sie nicht aus der Wohnung gehen.
    »Und etwas erleben«, sagte Ruth.
    Noch sind wir nicht am Ende angekommen, dachten sie. Noch haben wir Wünsche. Wer sich etwas wünscht, der ist nicht tot. Bessere Töchter hätten die Eltern nicht finden können. Sie sind tot, und wir leben. Wir können reisen, wohin wir möchten. Wir haben keine Verpflichtungen. Wir sind die Letzten der Familie. Wenn wir sterben, dann ist Schluss. Nach uns kommt keiner. Der Baum ist ausgetrocknet, der Fluss versiegt.
    »Wir kümmerten uns um die Eltern«, sagte Vika. »Von morgens bis abends, jahrelang.«
    Als fühlten wir uns ihnen gegenüber schuldig, dachten sie. Als hätten wir ihnen etwas Böses getan und müssten dafür büßen.
    »Gekocht haben wir für sie, jeden Tag zwei Mal.«
    »Wir haben ihnen das Essen zerteilt, sie gefüttert, ihnen das Glas an den Mund gehalten«, sagte Vika.
    Möchtest du dies, möchtest du das, fragten wir die Eltern, dachten sie. Schmeckt es dir, warum isst du nicht mehr, ruh dich aus, liegst du bequem, möchtest du aufstehen, soll ich dir ein Buch holen, möchtest du ein Kissen, soll ich für dich ein Licht anmachen, musst du auf die Toilette gehen, soll ich dir die Schuhe zubinden, soll ich dir eine Strickjacke holen, fühlst du dich wohl, ist dir heiß, tut dir etwas weh, soll ich den Arzt anrufen, soll ich dem Priester Bescheid sagen, dass er kommt.
    »Stundenlang saßen wir neben ihnen.«
    »Spazieren gegangen sind wir mit ihnen, die doch kaum noch laufen konnten«, sagte Vika. »Aber sie wollten an die frische Luft gehen. Mit einem Mal wollten sie unbedingt an die frische Luft gebracht werden. Bewegung tut uns gut, sagte der Vater und trieb uns an.«
    »Im Schneckentempo liefen wir mit ihnen durch die Straßen.«
    Wir mussten zu seinen Lieblingsplätzen fahren, dachten sie, nur dorthin, wohin er gehen wollte, nie dorthin, wohin wir fahren wollten. Wir waren ihre Chauffeure. Sie saßen stumm im Auto und ließen sich von uns durch die Gegend fahren. Mutter kannte ja nichts, sie interessierte sich für nichts. Aber sie fuhr mit. Wir saßen immer zu viert im Auto. Wir beide mussten sie begleiten, nie durfte eine von uns fehlen. Dass nur eine von uns sie begleitete, das reichte ihnen nicht. Es war wie früher, wenn wir zur Kirche gingen oder zum Landhaus fuhren.
    »Stundenlang lasen wir ihnen am Nachmittag die deutschen Klassiker vor«, sagte Vika. »Laut und deutlich, damit sie jedes Wort verstanden. Wir saßen zu viert im Wohnzimmer und riefen ihnen die Sätze

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