Kein Paar wie wir
essen und ging auf ihr Zimmer. Das Haus war ohne die Schwester leer.
Die Mutter jammerte über den Verrat der Tochter. Der Vater erwähnte Ruth mit keinem Wort.
Nach zwei Wochen traf eine Postkarte aus New York ein. Sie habe, schrieb Ruth, ein Zimmer und eine Arbeit gefunden, es ginge ihr gut. Vika empfing jedes Wort der Schwester wie ein Geschenk.
Darauf ließ sich der Vater dazu herab, seiner Tochter einen Brief zu schreiben, in dem er sie ermahnte, die Eltern in Ehren zu halten, sparsam zu sein und ein ordentliches Leben zu führen. Viel Glück wünschte er ihr nicht. Die Mutter rührte keinen Finger für einen Gruß. Erst Monate nach der Abreise ihrer Tochter schickte sie einen Brief nach New York, in dem sie endlose Vorwürfe auf endlose Klagen häufte und sich durch ein aufgewühltes Meer aus Selbstmitleid treiben ließ.
17
Sie ging nach New York mit dreißig Jahren. Ihr Vater war älter gewesen, als er Deutschland verließ. Sie hatte, im Gegensatz zu ihm, keine Stelle in Aussicht, und sie war eine Frau. Aber sie war die Großstadt gewohnt, sie kam nicht aus der Provinz. Sie hatte Stil und genügend Selbstvertrauen. Sie nahm sich ein Zimmer in einem billigen Hotel und machte sich auf die Suche nach Arbeit. Ihr erstes Ziel war, Fuß zu fassen, sie war nicht wählerisch, doch verkaufen mochte sie sich nicht. Sie wusste, was sie wert war. Es stand mehr auf dem Spiel als ein Job.
»Ich hatte sofort drei Stellen in Aussicht, und schon bei dem zweiten Vorstellungsgespräch wurde ich angenommen«, sagte Ruth.
Ich ging allein nach New York, dachte sie. Ich kannte dort niemanden. Keine Menschenseele. Ich hatte Angst. Man darf keine Angst haben, wenn man sein eigenes Leben führen möchte. Ich war alt genug, um frei zu sein, eine erwachsene selbständige Frau, nicht nur ein Anhängsel der Eltern. Aber ich bin ihre Tochter geblieben. Ich war alt genug, um Männer zu haben, aber ich hatte keine Männer. Ich ging nicht nach New York, um mit Männern ins Bett zu steigen oder um mich auf andere Weise zu vergnügen. Ich brauchte keinen Sex. Ich sah gut aus. Ich wollte arbeiten.
»Die Arbeit konntest du dir bald aussuchen«, sagte Vika. »Du warst in deiner Branche gefragt. Nicht nur in deiner Firma sprach sich schnell herum, wie gut du warst. Die Konkurrenz hatte ein Auge auf dich geworfen. Du hättest dich abwerben lassen können. Aber du bliebst deiner Firma treu.«
Sie ist als erste von uns beiden weggegangen, mit dreißig Jahren, dachte sie. Dreißig Jahre war sie zuhause gewesen. Unter der Fuchtel der Mutter. Unter dem strengen Blick des Vaters. An meiner Seite. Ein Glück im Unglück. Unter der Woche ging ich jeden Tag in die Universität, verließ früh das Haus und kam spät zurück. Ich lernte viel, ich war fleißig, die Eltern konnten sich über mich nicht beschweren. Ich sagte Vater, dass ich eine Doktorarbeit schreiben wollte. Unsinn, sagte er, wofür musst du einen Doktortitel haben. Er hatte nicht promovierte, eine Tochter mit einem Doktortitel war ihm unheimlich. Eine Frau, dachte er, braucht nicht zu promovieren. Aber er konnte mich nicht davon abhalten. Und dann war er doch stolz auf mich. Ich wäre nicht als erste von den Eltern weggegangen, und ich wäre alleine nie nach New York, in die Vereinigten Staaten gegangen. Aber nur durch eine so große Entfernung kamen wir aus dem Einflussbereich der Eltern heraus, aus ihrer Machtsphäre. New York war für uns ideal.
»Ich konnte drei Sprachen perfekt«, sagte Ruth.
Mehr konnte ich nicht, dachte sie. Der Vater hatte recht, ich konnte nichts. Ich hatte nichts gelernt. Nur die drei Sprachen. Aber die perfekt. Und es reichte. Dass ich nach New York gehen konnte, dass ich so schnell in New York Erfolg hatte, verdankte ich nur dem Vater. Er schickte mich auf eine englische Schule. Auf eine deutsche Schule geht ihr nicht, sagte er. Ohne die Nazis wäre ich nicht auf eine englische Schule gekommen. Ohne Hitler wäre ich nicht nach New York gegangen.
»Eine Firma für Export und Import«, sagte Vika.
»Eine weltweit agierende Firma, einer der Marktführer, wenn nicht die beste«, sagte Ruth.
Ich fing gleich bei einer der besten Firmen an, dachte sie. Nichts Halbes machen, sagte ich mir, nichts Billiges kaufen. Ich wusste, was ich wert war. Drei Sprachen perfekt. Und ich war attraktiv. Auch bei den Kleidern achtete ich auf die Qualität der Stoffe und auf die Schnitte. Du brauchst einen guten Friseur, sagte ich mir und suchte mir einen guten Friseur. Ich
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