Kein Paar wie wir
und Verse der deutschen Klassiker zu, und sie schliefen dabei ein.«
»Wilhelm Meister.«
»Den grünen Heinrich.«
»Den Lichtenstein von Hauff.«
»Der vom Vater geliebte Herzog Ulrich von Württemberg.«
»Schillers Balladen.«
»Uhland.«
»Mörike.«
»Immer wieder Schiller, Uhland, Mörike, Goethe«, sagte Vika.
»Nachmittags wollten sie Kuchen essen«, sagte Ruth. »Kein Nachmittag ohne Kuchen. Wir backten den Kuchen, deckten den Tisch, servierten ihnen den Kuchen, leisteten ihnen beim Kuchenessen Gesellschaft. Immer Tee, nie Kaffee. Wegen des Bluthochdrucks, sagte Vater. Immer nur eine Tasse Tee. Wenig Butter. Wegen des Cholesterins, sagte Vater.«
»Jeden Wunsch lasen wir ihnen von ihren schmalen Lippen ab.«
» Sie mussten nur zwinkern«, sagte Ruth, »und wir sprangen auf und erfüllten ihnen ihre Wünsche. Wir holten ihnen eine Decke, wenn ihnen kalt war, wir brachten ihnen eine Wärmflasche, wir lüfteten die Zimmer, wir machten sauber, wir hielten Ordnung. Drei Mal am Tag saßen wir mit ihnen am Tisch und aßen mit ihnen. Wir saßen auf denselben Plätzen wie früher. Nichts hatte sich verändert. Das gleiche Schweigen bei Tisch wie in der Kindheit.«
»Wir holten ihnen Zeitschriften, wenn ihnen langweilig war, wir klopften die Kissen aus, wenn sie nicht bequem genug saßen, wir machten die Lampe an, wenn es ihnen zu dunkel war.«
»Wir wischten ihnen den Mund ab, wenn sie gesabbert hatten, wir brachten sie zu Bett, wenn sie müde waren, wir holten ihnen die Kleider aus dem Schrank, wenn sie aufstanden und sich anziehen wollten.«
»Wir kochten ihnen ihre Lieblingsspeisen«, sagte Vika, » wir legten ihnen abends Schallplatten auf, wir machten ihnen das Radio an, wir gaben ihnen ihre Medizin.«
»Wir achteten darauf, dass sie genug tranken, wir fuhren sie zum Friseur, wir holten die Ärzte, die Pfleger, die Putzfrau.«
»Wir beeilten uns, den Rollladen zu schließen, wenn ein Sonnenstrahl sie störte, wir machten den Kamin an, wenn sie am Feuer sitzen wollten.«
»Und alles nur, damit es ihnen gut ging«, sagte Ruth.
»Rund um die Uhr waren wir für sie da. Tag und Nacht saßen wir an ihrem Bett.«
Und warteten auf ihren Tod, dachten sie. Aber der Tod ließ sich Zeit. Als wollten die Eltern uns ärgern. Als wollten sie sich an uns rächen. Sie stahlen uns unser Leben, damit sie länger leben konnten.
»Erst starb Vater«, sagte Ruth.
Wir fanden ihn tot in seinem Bett, dachten sie. Er lag auf dem Rücken. Er schien zu schlafen, aber er war tot. Er war in der Nacht gestorben. Sein Tod kam überraschend. Er hatte nicht geklagt, er war nicht krank. Er hätte noch weiter leben können. Aber er starb. Von heute auf morgen. Ohne ein Wort zu sagen. Wir konnten uns von ihm nicht verabschieden. Aber die Letzte Ölung hat er erhalten. Er hatte wie immer vorausgedacht. Er war gesund, aber alt. Er ließ den Priester frühzeitig zu sich kommen. Wir hielten seine Sorge wegen der Letzten Ölung für voreilig und für übertrieben. Er mochte kein Risiko eingehen. Er war ein strenger Katholik. Er sorgte vor, für sich, nicht für andere.
»Dann starb Mutter«, sagte Vika.
Wir saßen an ihrem Bett und sie starb, aber wir merkten es nicht, dachten sie.
»Wir haben unsere Pflichten erfüllt«, sagte Ruth.
Die Pflichten der Töchter, dachten sie. Niemand kann uns einen Vorwurf machen. Auch wir haben uns nichts vorzuwerfen. Liebe konnten die Eltern von uns nicht erwarten. Woher hätte die Liebe kommen sollen. Sie waren uns eine Last. Für uns war es eine Erlösung, als sie starben. Sieben Jahre Pflege waren genug. Wir hätten sie in ein Altersheim zu den anderen Alten schicken können, aber wir behielten sie bei uns, wir blieben bei ihnen.
»Wir taten, was sie von uns erwarten konnten«, sagte Vika.
Mehr hätten sie von uns nicht fordern können, dachten sie. Mehr konnten wir ihnen nicht geben. Keine Umarmung, keinen Kuss. Wir hielten ihnen nicht die Hand. Wir fassten sie an, nur wenn es sein musste. So hatten sie es mit uns gemacht, so machten wir es mit ihnen. Wir gaben ihnen zurück, was sie uns gegeben hatten. Wie die Eltern, so die Kinder. Es ändert sich nichts. Man kommt nicht aus seiner Haut heraus. Es bleibt alles in der Familie. Das Leben ist Pflicht. Wir brauchen uns ihnen gegenüber nicht schuldig zu fühlen. Auch sie fühlten sich uns gegenüber nicht schuldig. Wir haben nichts falsch gemacht.«
»Sie sind tot, und wir leben«, sagte Ruth.
Noch leben wir, dachten sie. Noch haben wir
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