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Kein Schatten ohne Licht

Kein Schatten ohne Licht

Titel: Kein Schatten ohne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Guenter
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die einzige Person gewesen, auf die sie sich immer hatte verlassen können. Sie hatte ihm blind vertraut. Und war so tief gefallen.
    Die Tatsache, dass er sofort auf sie zustürmte und sich an ihren Fußfesseln zu schaffen machte, tat ihrer Enttäuschung keinen Abbruch. Warum auch immer er sie nun befreite – er hatte sie angeschrien, ohnmächtig geschlagen, sie gefesselt und ihr einen Knebel in den Mund gesteckt. Das konnte und wollte sie ihm nicht verzeihen. Während er die festen Seile von ihren Fußknöcheln löste, wich Melica verletzt seinem Blick aus. Dabei streckte sie ihm gleichzeitig auffordernd das Gesicht entgegen, damit er sie von dem Knebel befreien konnte. Was er nicht tat. Stattdessen zog er ruckartig an ihren Beinen, sodass sie vor Überraschung zur Seite kippte.
    Es war ein Glück, dass sie ohnehin schon halb auf dem Bett lag. Sie verletzte sich also nicht. Zumindest nicht körperlich. Wie es allerdings mit ihrer Seele aussah, wollte sie gar nicht wissen.
    „ Du kannst wieder aufstehen“, verkündete Timon mit einem übermütigen Grinsen. „Wir wollen los!“
    Gern hätte Melica gefragt, wo sie denn überhaupt hin wollten. Noch lieber hätte sie ihn einfach nur angeschrien. Vielleicht war es doch ganz schlau von Isak gewesen, den Knebel in ihrem Mund zu lassen. Niemandem wäre geholfen, wenn sie das ganze Hotel durch ihr Gebrüll aus dem Schlaf riss.
    Der Trotz sprühte nur so aus ihr heraus, als sich Melica erst ein wenig aufrichtete und dann ungelenk aus dem Bett robbte. Nicht auf die Seite, an der Isak auf sie wartete.
    Dann stand sie. Ihr Blick huschte zur Tür, doch den Gedanken zur Flucht verwarf sie so schnell, wie er ihren Verstand erobert hatte. Zum einen war sie schon am vergangenen Abend daran gescheitert. Zum anderen müsste sie an Timon vorbei und dass der sie einfach so passieren ließ, bezweifelte sie irgendwie. Außerdem würde sie die Tür niemals schnell genug aufbekommen.
    Dass sie sich dafür entschied, kampflos aufzugeben, lag also nicht daran, dass sie es wollte – sie hörte nur zum ersten Mal in ihrem Leben auf ihren Verstand. Ihren Kopf hielt sie trotzdem gerade, die Nase dabei hoch in die Luft gestreckt. Wenn sie etwas von ihrer Mutter gelernt hatte, dann das: man verlor mit Stolz. Und mit Verachtung für die anderen.
    Mit erhobenen Schultern schritt sie auf Timon zu, ging, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbei und blieb wie ein treuer Hund vor der verschlossenen Tür stehen. Timon trat mit einem Lachen hinter sie, umfasste mit der einen Hand ihren rechten Unterarm und öffnete mit der anderen die Tür.
    Melica trabte ohne zu zögern los, Timon zog sie hinter sich her. Sie hörte mehrere Paar Schritte hinter sich.
    Isak und der seltsam traurige Junge kamen also auch dorthin mit, wo auch immer sie hin wollten. Trostlos ging Melica einen breiten, gemütlichen Gang entlang. Nichts war ihr gleichgültiger.
    Erst in dem Moment, in dem ihr Blick auf die kleine Rezeption fiel, schöpfte sie neuen Mut. Aus ihrer momentanen Position konnte sie nicht erkennen, ob sie besetzt war, doch wenn sie es war und es dort einen Menschen gab, der sie so sehen konnte, dann wäre sie gerettet!
    Doch mit jedem Schritt, mit dem sie der Rezeption näher kam, wuchs auch ihre Angst. Sie betete, dass sie jemand sehen und ihr helfen würde. Gleichzeitig hatte sie auch Angst davor. Niemand wusste, wie Timon und Isak reagieren würden. Und das Letzte, was sie wollte, war ein weiterer unschuldiger Toter.
    Dann war der Moment gekommen. Und Melica hatte sich noch immer nicht entschieden, ob sie vor Erleichterung lachen oder vor Erschütterung weinen sollte, als ihr große, gütige Augen aus dem Gesicht eines alten Mannes entgegensahen. Die Güte schwand in Sekundenschnelle, Besorgnis und Argwohn nahmen ihren Platz ein. Musste wohl an dem widerlichen Teil in ihrem Mund liegen.
    Der alte Mann brummelte etwas Unverständliches in seinen vollen Bart hinein. Was Timon darauf antwortete, konnte sie genauso wenig verstehen wie die Frage.
    Doch es schien auch gar nicht wichtig zu sein, denn nicht einmal der alte Mann sah so aus, als höre er ihm zu. Stattdessen blickte er Melica unverwandt an. „Du musst dir keine Sorgen machen“, sagte er dann in einem Englisch, das Melica nur schwer verstand. „Ich werde die Polizei rufen.“
    Melica wusste nicht, ob er Isak und Timon einfach keine Englischkenntnisse zutraute oder ob er einfach nur lebensmüde war, doch sie wusste, was sie zu tun hatte. Ihr

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