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Kein Schatten ohne Licht

Kein Schatten ohne Licht

Titel: Kein Schatten ohne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Guenter
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Löchern verzierte Kleidung. Und mit Augen, die so glücklich und liebevoll in die Welt strahlten, dass sie Melica trotz ihres heruntergekommenen Äußeren als eine der reichsten Menschen der Welt erschien.
    Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, als sich die Mimik der Frau plötzlich veränderte. Ihre Gesichtszüge wurden länger und länger, wie flüssiges Kerzenwachs tropften sie herab, zogen die Haut mit sich und enthüllten spitze Knochen. Ein Totenschädel starrte Melica entgegen und sie starrte zurück.
    Dann öffnete sie den Mund, schrie. Aus vollem Halse. Sie wollte gar nicht mehr damit aufhören, konnte es gar nicht. Dass ihr irgendwann etwas brutal auf den Mund gepresst wurde, empfand sie deshalb fast schon als Erleichterung. Während Angst ihre Gedanken und ihren Körper lähmte, vernahmen ihre Ohren jeden Laut, der durch die Lüfte getragen wurde. Ein erleichtertes Seufzen, ein Rascheln und schließlich ein Geräusch, als würde etwas Schweres über einen hölzernen Boden geschleift werden. Sie konzentrierte sich so auf ihre Ohren, dass sie erst nach einigen Sekunden merkte, dass der Druck auf ihren Mund nachgelassen hatte.
    Sofort riss sie ihre Augen auf, stemmte sich in die Höhe und sog die Luft in ihre Lungen. Die Folge davon waren ein reißender Schmerz in ihrem Rücken, ein Drang zu husten und ein Blick auf die Frau, die sie gerade eben noch in ihrem Kopf gesehen hatte.
    Positiv war, dass sie keine Ähnlichkeiten mit einem Totenschädel hatte. Negativ war, dass der Winkel, in der ihr Kopf abstand, trotzdem zeigte, dass sie tot sein musste.
    Erneut öffnete Melica den Mund, erneut begann sie zu schreien und erneut wurde ihr ein Kissen ins Gesicht geschleudert. Den kurzen Augenblick, in dem sie nun damit beschäftigt war, das Kissen aus ihrem Mund zu ziehen, nutzte Isak geschickt für eine Frage: „Warum schreist du denn?“
    „ Warum ich schreie?“ Vor Überraschung vergaß Melica sogar, damit weiterzumachen. „Bist du bescheuert? Ich schreie, weil ich ohnmächtig geworden bin und weil ich, als ich wieder aufgewacht bin, neben einer Leiche gelegen habe! Willst du mir etwa sagen, dass das kein Grund zum Schreien ist?“
    In dieser Situation, in diesem Moment, lernte Melica etwas, das ihr gesamtes Sein für immer verändern würde. Sie erkannte, dass niemand wirklich der war, der er zu sein schien und dass egal wie gut sie eine Person auch kannte, es immer wieder Augenblicke geben würde, die ihr ein neues, bisher unbekanntes Stück seiner Seele offenbaren würden. Manche Wesen hatten Glück und machten diese Erkenntnis schon sehr früh. Andere mussten erst einmal ihr Leben lang getäuscht werden, bis sie erkannten, dass Schwarz niemals einfach Schwarz und Weiß niemals nur Weiß war. Dass ihr Schicksal sie schon mit 18 Jahren auf dieses Wissen stoßen ließ, war demnach sehr gnädig. Dennoch war es zu spät.
    Ein Lächeln wie dieses hatte sie noch nie auf Isaks Lippen gesehen. Und mit jedem seiner Worte schien es noch breiter zu werden, noch kälter, noch böser. „Die Leiche ist vor knapp einer Stunde noch eine gesunde Frau gewesen. Sie hieß Ronja, war glücklich verheiratet und hatte drei gesunde Kinder und acht wunderbare Enkel. Ich habe sie auf der Straße getroffen, wo sie vor dem Kinderheim mit einigen anderen Frauen eine Art Markt geleitet hat, dessen gesamte Einnahmen für die dort lebenden Kindern gedacht waren. Du kannst stolz auf dich sein. Wärest du nicht gewesen und hättest der armen Ronja das Genick gebrochen, hätten die Kinder dort nun etwas zu essen.“
    Es war mehr als bloßer Schock, der Melicas Glieder beherrschte. „Ich... ich... was?“, stammelte sie, während sie ihren Onkel mit aufgerissenen Augen anstarrte.
    „ Ich, ich, was?“, wiederholte dieser höhnisch und schüttelte amüsiert den Kopf. „Bist du jetzt ernsthaft überrascht? Du musstest doch wissen, welche Auswirkungen es hat, wenn du das Essen verweigerst!“
    „ Ich habe es vergessen.“ Sie wussten beide, dass dies eine Lüge war.
    „ So etwas kann man nicht vergessen! Du spürst es in jeder Faser, in jeder verdammten Zelle! Der Schmerz und der Hunger - sie sind einfach immer da! Vor allem, wenn man seit Monaten keine Seele mehr übernommen hat, sind diese Gefühle unerträglich! Und da willst du allen Ernstes behaupten, dass du das vergessen hättest? Für wie dumm hältst du mich denn?“
    Ihr fehlten schlicht die Worte. Wer war der Mann, der dort auf sie einbrüllte? Er sah nicht einmal mehr aus

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