Kein Schatten ohne Licht
heraus. „Es tut mir leid.“
Jim antwortete nicht und sie wusste, dass seine Gedanken zu seiner eigenen Familie schweiften. Er hatte keine.
Jims Mutter hatte sich kurz vor seinem sechsten Geburtstag aus dem Staub gemacht. Ihr Freund konnte es so oft abstreiten, wie er wollte - Melica kannte Jim gut genug, um erahnen zu können, wie tief ihn dieser Verrat getroffen haben musste. Jim hatte seine Mutter aus tiefstem Herzen geliebt. Diese Liebe jedoch hatte schnell einem unglaublichen Zorn Platz gemacht, als sein Vater Samuel aus lauter Frust zum Alkoholiker wurde. Zum Alkoholiker, der seinen Sohn nicht nur schlug, sondern auch in der ganzen Stadt als aggressiver Säufer verschrien war. Und das bedeutete bei einer Großstadt wie Hamburg eine ganze Menge. Melica hatte sich noch immer nicht entschieden, ob Samuels Tod vor einigen Monaten ein Fluch oder nicht doch eher ein Segen war.
Aus den Augenwinkeln sah Melica, dass Jim seine Hände krampfartig zu Fäusten ballte. Zeit für einen unauffälligen Themawechsel.
„ Ich frage dich jetzt zum letzten Mal, Jim! Was ist gestern passiert?“
Eine Spur Dankbarkeit mischte sich in Jims Blick. Es gelang ihm sogar, ein leichtes Lächeln auf seine Lippen zu zwängen.
„ Das, meine Kleine, wird für immer mein Geheimnis bleiben“, prophezeite er düster und wich lachend ihrem Schlag aus.
Melica beschloss, das Thema einfach ruhen zu lassen. Schließlich kannte Melica ihren besten Freund. Er würde ihr niemals verraten, was sie getan hatte. Stattdessen fragte sie neugierig: „Weißt du überhaupt, wo wir sind?“
„ Du läufst mir seit Ewigkeiten hinterher, obwohl du noch nicht einmal weißt, wo ich hingehe?“, erwiderte Jim und Melica konnte eine Spur Amüsement in seiner rauen Stimme hören. „Ich könnte dich einfach entführen? Bei deiner Familie würde eine hübsche Menge Lösegeld für mich herausspringen!“
„ Du weißt doch, dass ich dir vertraue.“
Jim schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Dann ließ er ein leises Seufzen hören. „Es tut mir leid, Mel. Ich hätte wirklich auf dich aufpassen sollen. Deine Mutter wird nicht besonders glücklich sein, wenn du jetzt erst auftauchst.“
Schön, dass er das auch endlich begriffen hatte! „Das ist doch nicht deine Schuld.“ Ihr Blick fiel auf einen großen Wohnblock, der ihr vage bekannt vorkam. „Du kennst den Weg ja tatsächlich!“
„ Du hast doch nicht etwa wirklich daran gezweifelt?“
Melica legte den Kopf schief, streckte Jim die Zunge raus. „Vielleicht nicht. Doch von hier kenne ich den Weg auch allein. Danke, Jim.“
„ Bist du dir sicher, dass ich dich nicht bis zur Tür begleiten soll?“, fragte er unsicher.
„ Auf dem kurzen Weg wird mir doch wohl kaum etwas passieren!“
Jim vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und blickte sie besorgt an. „Ich würde mich besser fühlen, wenn ich dich wegbringen könnte.“
Gerührt lächelte ihn Melica an, bevor sie langsam den Kopf schüttelte. „Mama würde total durchdrehen, wenn sie dich sehen würde. Und jetzt hau' endlich ab! Mir passiert schon nichts!“
Jim gab sich mit einem leichten Grinsen geschlagen und drehte sich um. „Wir sehen uns morgen“, rief er und schlurfte mit tief in den Taschen vergrabenen Händen davon.
Melica blickte ihm nach. Sie könnte sich selbst dafür anschreien, doch mit einem Mal fühlte sie sich wirklich schutzlos. Vielleicht war es tatsächlich ein Fehler gewesen, Jim fortzuschicken…
Melica seufzte und kuschelte sich noch tiefer in ihre warme Jacke. Das hier war Hamburg, ihre Heimatstadt! Hier würde ihr doch nichts passieren! Ein lautes Krähen erklang direkt über ihrem Kopf und Melica zuckte leicht zusammen. Als hätte die Angst nur auf diesen Augenblick gewartet, kroch sie nun rasend schnell in jede Zelle ihres Körpers.
Keuchend blickte sie sich um. Da war nichts, wovor sie Angst zu haben brauchte. Nur die Schatten, die sich unter den kahlen Bäumen auf dem Boden kräuselten…
Was war nur los mit ihr? Melica fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit, hatte es noch nicht einmal als kleines Mädchen getan. Doch irgendetwas war heute anders. Seltsamer, angsteinflößender, lähmender... Dumm, dass ihr das erst jetzt auffiel.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie richtete sich auf. Zügig schritt sie auf den großen, schwarzen Wohnblock zu, der dunkel und mächtig über ihr aufragte. Ihr Zuhause lag dahinter, thronte reich und erhaben auf einem der Hügel, die durch einen
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