Kein Schatten ohne Licht
den Kopf wegzudrehen, übermächtig wurde, sah sie nicht weg. Ihre Sturheit würde sie wohl niemals verlieren. Stattdessen erwiderte sie seinen Blick eisern. Irgendetwas versuchte er ihr, zu vermitteln. Einen Gedanken? Eine Idee? Oder schlicht die Aufforderung, nachzudenken?
„ Ich überlege doch schon die ganze Zeit, wer es gewesen ist!“, fauchte sie zornig.
„ Genau das tust du nicht.“ Im Gegensatz zu ihr sprach Zane ganz ruhig. „Du hast Angst. Fürchtest dich davor, herauszufinden, dass dich neben Isak noch eine andere Person hintergangen hat. Würdest du normal denken, wärest du schon lange selbst auf die Antwort gestoßen.“
„ Was?“ Melica fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. „Soll das etwa heißen, dass du weißt, wer es war? Warum gehst du dann nicht einfach und erzählst es den anderen?“
„ Natürlich weiß ich es. Genauso wie du es im Grunde deines Herzens schon weißt.“
„ Das tue ich nicht!“ Es war das letzte kleine Bisschen an Protest, das sie aufbringen konnte. Das war Melica genauso bewusst wie Zane. Ihre Mauer aus Wut und Teilnahmslosigkeit fiel in sich zusammen. Tränen suchten sich ihren Weg über ihre Wangen, doch Melica beachtete sie nicht. „Ich will es nicht wissen“, ihre Stimme brach, ihr Kopf kippte nach vorn. „Ich... Gott, Zane, sie ist die Einzige, die die Gelegenheit dazu hatte! Wir anderen sind alle in seinem Büro gewesen... Ich... warum tut sie mir so etwas an?“ Heftige Schluchzer schüttelten ihren Körper. Ein Stechen in ihrer Brust, dort, ganz in der Nähe ihres Herzens. Sie hatte diese Schmerzen nicht gewollt, diese Enttäuschung nicht spüren wollen. Sie hasste Zane. Hasste ihn mit jeder Zelle ihres Seins. Ohne ihn hätte sie diesen Gedanken niemals denken, diese Erkenntnis niemals akzeptieren müssen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, zog. Sekunden später kippte Melica nach vorn, fiel direkt gegen eine harte Brust. Arme schlossen sich um ihren Rücken und zogen sie fest an einen warmen Körper. Melica konnte sich nicht wehren. Sie wollte es auch gar nicht.
Es war nicht so, dass Zane mit Zuneigung um sich warf und sie würde alles nehmen, was sie kriegen konnte. Geborgenheit. Schutz. Ein Gefühl von Freundschaft. So unglaublich das auch klingen mochte.
„ Er ist ihr Bruder gewesen“, hauchte Zane und dort, wo seine Lippen ihren Kopf streiften, brannten sich seine Worte in ihre Haut. „Wir hätten damit rechnen müssen, dass sie sich von euch Schattenkriegern abwendet.“
„ Aber sie haben sich gehasst!“, protestierte Melica leise.
Sie spürte Zanes Kopfschütteln mehr, als dass sie es sah. „Da irrst du dich, Hexe. Die beiden haben sich nie gehasst. Ich habe die komische Beziehung zwischen ihnen nie ganz ergründen können. Doch wenn ich dir eines mit Sicherheit sagen kann, dann, dass sie sich immer geliebt haben. Keiner der beiden wollte, dass der andere stirbt.“
„ Aber... sie wusste doch, dass er böse ist“, flüsterte Melica mit rauer Stimme.
„ Seit wann ist Liebe denn rational?“
Das Einzige, was auf Zanes Worte antwortete, war Stille. Für eine lange Zeit sagte niemand etwas. Sie saßen einfach nur da, genossen die Wärme und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Melica war jedoch kein Wesen, das Schweigen allzu lange ertrug. Es fühlte sich ungewohnt und fremd an. „Ich habe gedacht, dass sie mich mochte.“
Ein Seufzen. „Aus irgendeinem mir noch unerklärlichen Grund hat sie das wahrscheinlich auch getan. Doch du musst aufhören, dich selbst als Mittelpunkt der Welt zu sehen. Yvonne hat den Jungen nicht an Luzius ausgeliefert, weil sie dich verletzen wollte. Sie hat es einzig und allein für ihren Bruder getan. Sie konnte euch Schattenkrieger nicht länger unterstützen. Es wäre Verrat an seinem Erbe. Dies ist auch nicht der Grund, warum ich sie für verachtenswert halte. Was mich wütend macht, ist die Tatsache, dass sie nicht zusammen mit dem Jungen verschwunden ist. Sie hätte gehen müssen, anstelle hier zu bleiben und zu versuchen, euch noch mehr wichtige Informationen zu entlocken.“
Melicas Bedürfnis nach Nähe schwand so schnell, wie es aufgekommen war. Obwohl Zane es gewesen war, der sie in die Umarmung gedrängt hatte, begann ihr Gesicht verräterisch zu glühen. Mit Wangen, die so rot leuchteten wie Rudolphs Nase, löste sie sich von dem dunklen Dämon. Eine Minute verging, eine zweite verschwand in der Vergangenheit.
Melica brauchte Zeit, um sich zu sammeln und um sich die Maske der
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