Kein Schatten ohne Licht
lag, wäre sie wohl schon lange nach Hause verschwunden. Jim aber kannte sie schon seit dem Kindergarten und schon allein bei dem Gedanken daran, ihn einfach so zurückzulassen, stiegen Schuldgefühle in Melica hoch, die ihr fast die Luft abschnürten.
„ Jim!“, flehte sie weiter. „Nun komm schon!“
Erschrocken fuhr sie zusammen, als in der Ferne ein Jaulen erklang und in den kahlen Baumkronen gespenstisch widerhallte. So langsam bekam sie es nun doch mit der Angst zu tun. Was zum Teufel war hier los?
Jim stöhnte leise und Melica blickte ihn hoffnungsvoll an.
„ Bist du endlich wach?“, fragte sie und versetzte ihm erneut einen harten Tritt.
Der Mann zischte auf, hielt seine Augen jedoch weiterhin eisern geschlossen.
„ Lass mich schlafen, Mel“, brummte er verstimmt.
Während sich Melica umblickte, sagte sie grob: „Das kannst du vergessen!“
Noch nie hatte sie den Stadtpark bei Nacht gesehen! Ihre sonst so geliebten, mächtigen Bäume sorgten nun dafür, dass sich eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper ausbreitete. Melica schrie panisch auf, als sich ein stählerner Griff um ihr Bein schlang. Angst floss durch jede Stelle ihres Körpers.
Entsetzt versuchte sie, die Kälte abzuschütteln, doch der Griff wurde nur noch fester. Melica war wie von Sinnen und schlug wild um sich.
Nun, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Jim ein lautes Lachen ausstieß.
„ Was bist du doch für ein Angsthase!“, spottete er grinsend und zog seine Hand zurück.
„ Sag mal, spinnst du? Das war nicht witzig, du Idiot!“
Zugegeben, Melica verfluchte sich im Stillen selbst für ihre Reaktion. Was hatte sie denn erwartet, was sie da am Bein zog? Riesenspinnen?
Jim setzte sich auf und fuhr sich lässig durchs rotblonde Haar. „Was willst du?“
„ Ich weiß ja nicht, wie es bei dir aussieht, aber für mich ist es nicht wirklich normal, auf einer kaputten Bank aufzuwachen!“, fauchte Melica und fuchtelte hektisch mit ihren Armen in der Luft herum. „Was zur Hölle machen wir hier?“
Jim schien von ihrer Wut nicht im Geringsten eingeschüchtert zu sein. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.
„ Du kannst dich wirklich nicht erinnern?“, fragte er. „An gar nichts?“
Melica verengte ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen. „Wieso? An was sollte ich mich denn erinnern können?“
Sie hätte nicht gedacht, dass Jims Grinsen noch breiter werden könnte. Doch sie hatte sich geirrt. Ihr bester Freund starrte sie an wie ein schadenfroher, bösartiger Clown.
„ Was tust du da?“, fragte er dann mit einem kurzen Blick auf ihre wild herumfuchtelnden Arme. „Lernst du fliegen? Du bist kein Schmetterling, Mel.“
Melica warf ihm einen beleidigten Blick zu und entschied sich prompt, nicht auf seine Spötteleien einzugehen.
„ Was ist gestern passiert?“, fragte sie stattdessen.
„ Das willst du gar nicht wissen“, sagte Jim und sprang auf die Beine. „Lass uns gehen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, lächelte er überheblich und ging davon. Dumpf hallten seine Schritte durch die menschenleeren Straßen.
Melica schnaubte. Dieser arrogante Mistkerl! Und mit dem sollte sie seit Jahren befreundet sein?
„ Ich weiß noch, dass wir bei dieser seltsamen Judith gewesen sind“, sagte sie, während sie ihm nacheilte.
„ So seltsam ist Judith gar nicht.“
Melica verdrehte die Augen. „Nein. Natürlich ist sie das nicht!“, erwiderte sie und legte so viel Spott wie irgend möglich in ihre Stimme. „Und die Partys, die sie jede Nacht bei sich schmeißt, sind auch vollkommen normal!“
Jim blieb nicht einmal stehen. „Nicht Judith ist es, die sich gestern Abend seltsam benommen hat.“
„ Du bist bescheuert, weißt du das eigentlich?“
„ Nein. Aber nett, dass du mir davon erzählst.“
Melica atmete tief ein. „Jim? Wenn ich gestern Abend so viel getrunken habe – warum hast du mich nicht einfach nach Hause gebracht?“
Jim starrte sie an. „Ich bin doch nicht wahnsinnig! Du kennst doch deine Mutter! Weißt du eigentlich, wie angewidert die mich immer ansieht? So etwas muss ich mir echt nicht antun! Ehrlich, Melica, deine Mutter ist ja sowas von uncool!“
„ Du musst es ja wissen!“, zischte Melica. Sie hatte dieses Gerede über ihre Mutter ja so satt! Was konnte sie denn für ihre Familie?
Erst als Jim nicht antwortete, wurde ihr bewusst, was genau sie dort gesagt hatte. Sekunden später rannen Schuldgefühle wie kochendes Öl durch ihren Körper, verbrannten sie von innen
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