Kein Schatten ohne Licht
die Nase setzte. Nun sah er aus wie ein durchschnittlicher Student. Ein durchschnittlicher Student mit einem überdurchschnittlich netten Lächeln. „Es tut mir ehrlich leid. Ich wollte dir keine Angst machen.“
„ Du wiederholst dich.“
„ Ich weiß. Es war aber wirklich ziemlich dumm von mir, dich so zu erschrecken“, er seufzte leise. „Du solltest mich am besten anzeigen.“
Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, doch sie kämpfte es erbittert nieder. „Vielleicht sollte ich das tun. Belästigung ist ein schwerwiegendes Vergehen.“
„ Davon habe ich gehört. Opfer von Belästigungen sind noch Jahre später traumatisiert. Aber ich sollte dich vielleicht warnen. Mein Vater ist Anwalt. Mit einer Anzeige hättest du keinen Erfolg.“
„ Das glaube ich aber doch! Mein Vater ist nämlich...“ Melica stockte und ihr Gesicht verschloss sich. Warum war ihre Zunge immer schneller als ihr Verstand? Warum erzählte sie es ihm überhaupt? Sie kannte ihn nicht, hatte ihn noch nie gesehen! Ihr Vater mochte tot sein, doch wenn er ihr etwas beigebracht hatte, dann, niemals einem Fremden zu vertrauen. „Ist ja auch egal“, sagte sie deshalb und schüttelte hart den Kopf. „Ich muss nach Hause. Tu dir selbst den Gefallen und setz demnächst deine Brille auf, ja? Es könnte sein, dass du das nächste Mal kein Mädchen erwischt, das so nett ist wie ich es bin.“
„ Das kommt ganz darauf an.“
Melica wartete darauf, dass er weitersprach, doch da kam nichts. Unentschlossen blickte sie ihn an. Auf der einen Seite wollte sie so schnell wie möglich nach Hause, um den Streit mit ihrer Mutter so gering wie irgend möglich zu halten. Auf der anderen Seite aber war da ihre Neugier. Und ihre Neugier gewann eigentlich jeden Kampf. Wie auch in diesem Fall. „Worauf denn?“
„ Ob du findest, dass ich ohne Brille besser aussehe als mit.“
Wider Willen musste Melica lächeln. „Warum sollte mich dein Aussehen interessieren?“
„ Ich versuche nur, dir deine Entscheidung so einfach wie möglich zu machen.“
Dieser Mann schien es wirklich zu lieben, in Rätseln zu sprechen. „Was für eine Entscheidung?“
„ Ob du mit mir ins Kino gehen willst oder nicht.“
„ Mit dir?“ Melica lachte. „Das ist deine typische Anmache, ja? Überfällst irgendein fremdes Mädchen und wenn es daraufhin nicht versucht, dich zu schlagen, lädst du es ins Kino ein?“
„ Bis jetzt hat es immer funktioniert.“
„ Ach? Wie oft hast du es denn schon ausprobiert?“
„ Mit dir eingerechnet - einmal“, antwortete der Fremde. „Also was sagst du? Bist du dabei?“
Betont langsam ließ Melica ihren Blick über den Mann schweifen. Nicht unbedingt ihr Typ, dazu war sein Aussehen zu nichtssagend. Zu freundlich. Absolut langweilig.
„ Nein“, sagte sie trocken. „Eher nicht.“
Etwas Dunkles blitzte auf seinen jugendlichen Zügen auf, ganz kurz nur, wie ein Lufthauch. Sekunden später war sein Gesicht wieder ganz freundlich. „Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?“
Melica vergaß den Ausdruck des Bösen auf seinem Gesicht und erwiderte sein Lächeln. Dann machte sie einen Schritt an ihm vorbei, wandte ihm den Rücken zu. Sie hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, wie man einen dramatischen Abgang hinlegte. Man musste den Ort des Geschehens verlassen, dabei absolut teilnahmslos wirken und die Frage, nach deren Antwort das gesamte Publikum ungeduldig lechzte, erst im letzten nur denkbaren Moment beantworten. So war Melica schon fast hinter einer Häuserwand verschwunden, als sie dem Fremden endlich den Gefallen tat und ihn von seiner Neugier erlöste. „Ich heiße Melica.“
„ Es war schön, dich kennenzulernen, Melica!“, rief ihr Angreifer ihr mit einem atemlosen Lachen nach. „Mein Name ist Luzius. Nur, damit du Bescheid weißt!“
~*~
Melica war Alkoholikerin. Davon war sie vollends überzeugt. Sie musste sich am vergangenen Abend nur so mit Alkohol zugeschüttet haben. Eigentlich müsste ihr nun unglaublich übel sein. Eigentlich müsste ihr Kopf brummen. Und eigentlich müsste ihr Magen einen Purzelbaum nach dem anderen schlagen. Melica fühlte sich jedoch absolut fantastisch.
Mit sorgenvoll gerunzelter Stirn starrte Melica an die Decke. Sie musste auf der Stelle damit aufhören, Jim auf diese lächerlichen Partys zu begleiten. Ihr Feiern musste ein Ende haben. So großartig es auch war, ihrer Mutter damit auf die Nerven zu fallen – ihre Zukunft war ihr zu wichtig, um sie einfach so
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