Kein Schatten ohne Licht
davonzuwerfen. Sie hatte Pläne, Ziele, die sie unbedingt erreichen wollte! Und irgendwie bezweifelte sie, dass ihr dies mit Alkoholproblemen gelingen würde. Melica kratzte all ihren Mut zusammen und riskierte einen Blick auf ihren Radiowecker. 14 Uhr.
„ Verdammt“, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht in den weichen Daunen ihres Kissens. Den ganzen Vormittag z u verschlafen stand selbst in den Ferien unter Todesstraf e. Umso seltsamer, dass ihre Mutter nicht schon längst in ihr Zimmer gestürmt war und einen Eimer eiskalten Wassers direkt über ihrem Gesicht ausgekippt hatte.
Misstrauen keimte in Melica auf. Irgendetwas war falsch. Jane hätte sie niemals solange schlafen lassen, wenn sie nicht irgendeinen Plan verfolgen würde. Denn für ein solches Verhalten wäre ein Hauch von Freundlichkeit vonnöten. Und ihre Mutter könnte dieses Wort nicht einmal buchstabieren, wenn sie Geld dafür erhalten würde.
Während sie ihren Verstand nach einem möglichen Motiv für das Verhalten ihrer Mutter durchforstete, schwang Melica ihre Beine aus dem Bett und tapste ins Badezimmer. Ein kurzer Blick in den etwa mannshohen Spiegel ließ sie sorgenvoll die Stirn runzeln. Sie sah ganz normal aus. Keine unterlaufenen Augen, kein verquollener Hals. Wie konnte es sein, dass es ihr, obwohl sie keine Ahnung hatte, was am vergangenen Abend geschehen war, trotzdem so gut ging? Da klaffte ein vollkommenes, bodenloses Loch in ihren Erinnerungen!
Obwohl – nein. Das war gelogen. Sie erinnerte sich an ein Paar dunkelblauer Augen, die sie hinter einer breiten Brille belustigt anfunkelten.
Luzius. Ihr angsteinflößender Angreifer, der sich im Nachhinein als ganz und gar nicht furchteinflößend erwiesen hatte. Melica schüttelte leicht den Kopf. Der war vielleicht ein schräger Vogel gewesen! Eigentlich fast schon schade, dass sie sich nicht auf ein Treffen mit ihm eingelassen hatte. Doch dafür steckte die Erziehung ihres Vaters noch immer viel zu tief in ihren Knochen. Ein Fremder blieb ein Fremder, auch wenn er ihr seinen Namen verraten hatte. Es wäre falsch gewesen, ihm zu vertrauen. Falsches Vertrauen zog nichts als Schmerzen mit sich. Das hatte ihr der Tod ihres Vaters nur allzu deutlich vor Augen geführt. Mit einem leisen Seufzen beugte Melica sich über das Waschbecken und begann damit, ihr Gesicht zu waschen.
„ Mel?“
Ein leichtes Lächeln trat auf Melicas Lippen, als sie die hohe Stimme hörte.
„ Du kannst reinkommen!“, rief sie und beobachtete im Wandspiegel, wie die Tür langsam aufgestoßen und ihre kleine Schwester Paula sichtbar wurde.
Das blonde Mädchen musterte sie besorgt. Lange. So lange, dass Melica unsicher damit begann, ihr Gewicht von einem Bein auf das andere zu verlagern. Sie fühlte sich seltsam unwohl unter dem forschenden Blick der Elfjährigen. Einem so jungen Mädchen sollte es nicht erlaubt sein dürfen, einen solch durchdringenden Blick zu besitzen. Paula schien tiefer zu blicken als viele Erwachsene auf dieser Welt, mehr zu sehen, als es für gewöhnliche Menschen üblich war.
Ihre braunen Augen hatten einen leicht fiebrigen Glanz, fast so, als wäre sie ängstlich und aufgeregt zugleich. „Mummy will dich sprechen!“, platzte es da aus ihr heraus.
Melica seufzte. „Wie sauer ist sie?“, fragte sie.
Ihre Frage erntete nichts als Verwirrung. „Sauer? Warum?“
„ Hat sie nicht mitbekommen, wie spät ich nach Hause gekommen bin?“ Hoffnung, ach so wunderbare Hoffnung erblühte in ihrem Herzen und strömte durch ihren Körper.
Aus irgendeinem Grund schien sich Paula ertappt zu fühlen. Glutrote Farbe stieg in ihre Wangen und erweckte den Eindruck, als wäre sie diejenige, die sich gestern mit Alkohol zugeschüttet hatte. „Ach. Oh! Doch! Natürlich ist sie wütend, ich meine – klar! Das habe ich ganz vergessen! Sie ist richtig sauer. Richtig, richtig sauer!“
„ Paula? Was ist los? Geht es dir gut?“
„ Ja!“ Ein nervöses Lachen. „Ich meine, sie ist ja nicht auf mich sauer, nä?“
„ Da hast du wohl recht.“ Melica fuhr sich erschöpft durch ihr kurzes Haar. Obwohl sie ihn schon seit einigen Tagen trug, fühlte sich der neue Schnitt noch immer ungewohnt an. Ohne ihre langen Haare hatte sie irgendwie das seltsame Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. Dennoch bereute sie ihre Entscheidung nicht. Kurze Haare waren praktischer als lange und außerdem war es einfach Zeit für eine Veränderung gewesen.
„ Wo ist Mama denn?“, fragte sie Paula.
„ Im
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