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Kein Schatten ohne Licht

Kein Schatten ohne Licht

Titel: Kein Schatten ohne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Guenter
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Salon.“
    Melica verdrehte die Augen. Sie hätte sich die Frage auch schenken können. Wo sollte Jane auch sonst sein? Ihre Mutter verließ den Salon nie, hockte immer auf dem gleichen Sessel, wie eine Prinzessin, die darauf wartete, ihr lästiges Fußvolk zu empfangen.
    Melica warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. Sauer oder gut gelaunt – ihre Mutter würde es nicht ertragen, wenn die frisch braun gefärbten Haare ihrer Tochter nicht richtig lagen.
    Sekunden später war Melica auf dem Weg. Ihre Beine fühlten sich merkwürdig an. Mit jedem Schritt, dem sie dem Salon näher kam, schienen sie schwerer zu werden, so, als wehrten sie sich dagegen, ihrer Mutter näher als nötig zu kommen. Ein schmerzliches Lächeln überzog Melicas Lippen, als sie die Tür zum Salon aufstieß. Wenn sich selbst ihre einzelnen Körperteile die Mühe machten, einen eigenen Willen zu entwickeln, nur, um nicht auf Jane treffen zu müssen – nun, dann konnte etwas mit ihrer Mutter ganz und gar nicht normal sein. Das bewies auch der Blick, den ihr die blonde Frau in diesem Augenblick schenkte.
    Jeder Außenstehende würde ihn wohl für freundlich halten, doch Melica erkannte die Abneigung, die blinde Wut, die in den Tiefen ihrer kalten Augen schlummerten.
    „ Paula sagte, du wolltest mich sprechen?“
    „ Ich erwarte einen Gast zum Tee. Du solltest dich angemessener kleiden. Versuch zur Abwechslung einmal, mir keine Schande zu bereiten.“
    Melica blinzelte verdutzt. Jedoch nicht, weil sie die Beleidigung in irgendeiner Form überraschte. Nein, solch liebenswürdige Worte war sie gewohnt. Es fehlte allerdings noch etwas. „Ist das alles?“
    „ Alles?“ Jane hob langsam eine Augenbraue. Ein Stechen fuhr Melica in die Brust. Das kurze Aufblitzen einer Erinnerung, flüchtig, zu kurz, um sie greifen zu können. „Was sollte ich denn sonst mit dir besprechen wollen?“
    „ Nein. Nichts. Ist schon alles in Ordnung“, versicherte sie schnell. „Wer... wer kommt denn?“
    Leiser Tadel überzog das makellose Gesicht ihrer Mutter. „Wir haben bereits darüber gesprochen, Melica. Der Verlobte deiner Schwester kommt zum Tee. Der Termin steht schon seit Tagen fest.“
    „ Achja. Stimmt ja.“ Niemals würde sie zugeben, dass sie davon zum ersten Mal hörte. Sie war schon aufgrund ihrer Verspätung ungestraft davongekommen – ein weiteres Vergehen würde ihre Mutter nicht einmal dann durchgehen lassen, wenn ihr jemand für diese Leistung den Friedensnobelpreis versprechen würde. „Um 16 Uhr, nicht wahr?“
    „ Du wirst es wohl niemals lernen. Gäste empfängt man stets um 15 Uhr, Melica“, gab Jane mit einem langsamen Kopfschütteln zurück. „Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Du solltest dich beeilen.“
    Das letzte Wort verhallte ungehört auf Janes Lippen. Melica war schon längst in ihrem Zimmer verschwunden.

~*~
    Melica traf Livs Verlobten nicht zum ersten Mal. Da sollte man doch meinen, sie hätte sich inzwischen an sein umwerfendes Aussehen gewöhnt. Oder aber an seine beeindruckende Intelligenz. Doch wenn jemand so etwas meinte, dann würde dieser jemand lügen müssen. Seine Ausstrahlung traf sie noch immer wie ein Schlag.
    Neid flammte unterwartet heftig in ihr auf, als sie ihren Blick langsam von Liv zu dem Menschen schweifen ließ, dem ihre Schwester ihr Herz geschenkt hatte. Nicht, dass die beiden sich nicht verdient hätten, nein! Beide waren wunderschön, freundlich und intelligent. Sie passten einfach perfekt zueinander. Und es war auch nicht so, als ob sich Melica ernsthaft für den Verlobten ihrer Schwester interessierte. Trotzdem war dort dieser Neid, der sie ganz und gar beherrschte. Neid und die alles und jeden verzehrende Angst, dass sie selbst nie das Glück haben würde, jemanden zu finden, der sie mit einer solchen Liebe in den Augen ansah.
    Als hätte er ihren Blick gespürt, hob Jonathan den Kopf und schenkte ihr ein schwaches Lächeln.
    Sofort wandte Melica das Gesicht ab. Sie war sich sicher, dass ihre Wangen rot aufleuchteten. Das Fenster, das sich am ehesten in ihrer Nähe befand, war etwa einen Meter von ihr entfernt. Wie groß war wohl die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es ihr gelang, unauffällig das Fenster aufzuziehen und daraus zu verschwinden? Möglichst, bevor irgendjemand bemerkte, dass sie mit ihren Wangen jeder verkehrstüchtigen Ampel Konkurrenz machen konnte? Ihr Verstand erklärte, dass die Chance nicht allzu groß war, doch ihr Herz rief ihr zu, es dennoch zu versuchen. Melica

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