Kein Schatten ohne Licht
geschah – das Wohl der Gäste hatte höchste Priorität. Immer. In der Hoffnung, damit irgendetwas retten zu können, schenkte sie dem etwas verloren wirkenden Jonathan ihr breitestes Lächeln.
Während ihrer Diskussion hatten sich ihr und Janes Oberkörper immer weiter aufeinander zu bewegt, sodass sie beide nun halb über dem Tisch hingen. Verlegen zog Melica sich zurück.
Jane jedoch blieb, wo sie war. Ihre hellen Augen loderten vor blanker Wut. „Ja, mein Schatz. Ich bin mir sicher. Wir werden das jetzt besprechen.“
Melica umklammerte mit ihren Händen die Rückenlehne ihres Stuhls. Wenn dieses Gespräch noch weitergehen sollte, so wollte sie zumindest sicherstellen, dass sie nicht erneut vorschießen und damit in der gleichen seltsamen Position über dem Tisch hängen würde wie ihre Mutter. Sie hatte schließlich ein Gesicht zu verlieren. „Wenn ich jetzt zugeben würde, dass ich mich vergangene Nacht mit einem netten Kerl unterhalten habe – wärst du dann eher glücklich, weil die Aussicht auf eine Hochzeit doch nicht verloren ist oder eher sauer, weil ich so spät nach Hause gekommen bin?“
„ Ich wäre wütend.“
„ Ah. Okay“, Melica nickte leicht. „Dann habe ich mich selbstverständlich nicht um zwei Uhr morgens mit Luzius unterhalten. Sondern habe stattdessen in meinem Bett gelegen und geschlafen.“
Wenn Melica ehrlich sein sollte, dann hatte sie erwartet, dass ihre Mutter sie für diese dreiste Lüge anschreien würde. Sie hatte es sogar gehofft! Doch wie üblich machte es Jane einen Heidenspaß, sie zu enttäuschen. Während Liv und Jonathan einen kurzen Blick tauschten und dann aus heiterem Himmel zu grinsen begannen, lag auf Janes Gesicht nichts als Verachtung. „Luzius? In welcher Sekte hast du den denn aufgetrieben?
„ Wie du sicher weißt, heiße ich Melica. Da steht es mir nicht gerade zu, mich über seltsame Namen zu wundern. Findest du nicht?“
„ Dir steht das vielleicht nicht zu, mir aber schon“, erwiderte Jane schnippisch. „Und tatsächlich trägt dieser Luzius einen derartig schrägen Namen, dass ich nicht will, dass du dich in seiner Nähe aufhältst.“
Melica blinzelte vor Verblüffung. Dass ihre Mutter ein wenig weltfremde Vorstellung hatte, war ja keine Überraschung. Aber dass sie es sich seit Neuestem auch noch anmaßte, Unbekannte nur aufgrund ihres Namens zu verurteilen... das war echt hart. Hilfesuchend blickte sie ihre große Schwester an. Deren Reaktion war nicht ganz so hilfreich wie erhofft. Entschuldigend zuckte sie die Achseln.
„ Ich will mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen, Jane, doch ist das nicht ein wenig zu extrem? Meiner Meinung nach sollte Melica diesem Luzius eine Chance geben.“ Wow. Gutaussehend, intelligent und mutig. Liv hatte einen wahren Glückstreffer gelandet.
„ Du hast recht, Jonathan. Es geht dich nicht das Geringste an!“
Melicas Kinnpartie erlag der Schwerkraft und klappte hinab. So musste sich ein Schauspieler fühlen, der mit dem falschen Kostüm zur falschen Zeit auf die große Bühne geschickt worden war. Das war nicht ihre Rolle, nicht ihr Leben!
„ Du wirst dich von diesem Mann fernhalten, Melica!“, fuhr ihre Mutter wütend fort.
„ Ach? Werde ich das?“ Sie konnte es einfach nicht lassen. Obwohl Jane vollkommen unberechenbar war, tat Melica noch immer alles, um sie zu reizen. Manchmal war sie auf sich selbst stolz. Dies war keiner dieser Momente.
„ Das ist mein ernst, Melica!“ Janes Wut traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich verbiete es dir! Habe ich mich da klar ausgedrückt?“
„ Ja. Vollkommen.“
In diesem Augenblick wuchs ein kleiner, unscheinbarer Gedanke in ihrem Verstand, unbedeutend zunächst, doch mit jedem Atemzug, den Melica tat, gruben sich seine Wurzeln tiefer in ihren Geist. Innerhalb weniger Minuten reifte ein Plan in Melica heran. Ein Plan, der zu einem drängenden Bedürfnis wurde, ein Plan, der jede Zelle ihres Körpers erfüllte.
Allerdings war er nicht einfach zu realisieren. Schließlich hatte sie nur einen Namen. Luzius. Sie wusste nichts über ihn. Und trotzdem würde sie ihn finden, musste ihn finden! Koste es, was es wolle.
~*~
46 Stunden und 13 Minuten später stellte sich heraus, dass es schwieriger war als gedacht, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Melica war nun einmal keine Privatdetektivin. Sie hatte keine Ahnung, wie man eine fremde Person finden konnte, wusste nicht, wo sie ihre Suche überhaupt ansetzen musste. Doch sie hatte das
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