Kein Schatten ohne Licht
gering“, antwortete Melica zischend.
Erst erntete sie nichts als Schweigen. Doch dann: „Also siehst du noch immer eine Chance?“
Luzius war krank. Mehr als krank. Er war ein absoluter Psychopath. „Verschwinde einfach aus meinem Leben!“, sagte sie finster und legte aufgebracht auf.
Mit einem Mal bereute sie es zutiefst, dass sie das Verbot ihrer Mutter missachtet hatte. Sie hätte niemals versuchen sollen, diesen Menschen zu finden. Vielleicht sollte sie der bösen Frau vom Einwohnermeldeamt einen Dankeskorb schicken. So wie es aussah, hatte sie sie vor einem gigantischen Fehler bewahrt. Denn wenn Luzius ihr schon am Telefon eine solche Angst machen konnte... Melica wollte gar nicht erst wissen, wie die Dinge eskaliert wären, hätte sie ihn persönlich getroffen.
Geistesabwesend schob sie ihr Handy in den Klamottenhügel neben ihrem Bett und ging ins Badezimmer. Sie würde Jim danken müssen. Hätte er dieses Plakat nicht entdeckt, hätte sie wahrscheinlich niemals aufgehört, nach Luzius zu suchen. Früher oder später hätte sie ihn gefunden. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, dass sie aus dieser Begegnung unbeschadet herausgekommen wäre. Nun blieb Luzius nicht mehr als eine furchteinflößende Bekanntschaft. Sie konnte ihn vergessen, ihn und die Schauer der Angst, die er in ihr hervorgerufen hatte. Zumindest irgendwann.
~*~
Eine Stunde später war Melica der Verzweiflung nah. Tränen brannten in ihren Augen und sie musste immer öfter schlucken, um zu verhindern, dass sie vor Unmut zu weinen begann. Schockiert vergrub sie das Gesicht in ihren Händen, zog ihre Beine so dicht wie möglich an ihre Brust. Zusammengekauert hockte sie dort, atmete so langsam und tief wie möglich, ein und aus, immer und immer wieder. Ihr schlimmster Alptraum war tatsächlich eingetreten. Doch sie musste es einsehen, es realisieren und akzeptieren. Sie hatte wirklich und wahrhaftig und ohne den geringsten Zweifel ihr Handy verloren.
Sie hatte jeden Zentimeter ihres Zimmers doppelt und dreifach untersucht, hatte jedes Staubkorn einzeln in die Luft gehoben, ihre Nase in jede Ritze, in jede Spalte gesteckt, die sie hatte finden können. Doch ihr Handy blieb wie vom Erdboden verschollen. Es war so, als hätte es niemals existiert. Eine Gänsehaut überzog Melicas Körper und weigerte sich, zu verschwinden. Eine Welt ohne Handys. Was für eine grausame Vorstellung.
Celsius Anders hatte eine Maßeinheit für Temperaturen erfunden, die französische Nationalversammlung die Entfernungseinheiten wie den Meter entscheidend geprägt. Bisher war es jedoch niemandem gelungen, eine Einheit für den menschlichen Gemütszustand festzulegen. Und falls doch, dann läge Melicas Laune mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit weit unter dem Minimalwert. Es musste das erste Mal seit nahezu acht Jahren sein, dass sie das Haus ohne ihr Handy verließ. Ein Körperteil zurückzulassen, wäre wohl nicht weniger schmerzhaft gewesen.
Ihr Gesicht musste dem eines Monsters gleichen, denn keiner einzigen Person, der sie begegnete, gelang es, ihren Blick länger als eine halbe Sekunde zu erwidern. Statt eines Lächelns oder eines Nickens bekam Melica nur verängstigte Grimassen zu sehen. Sie störte sich nicht daran. Sollten andere Menschen sie doch für melodramatisch oder gar furchteinflößend halten – im Gegensatz zu ihr hatten sie mit Sicherheit alle noch ein voll funktionierendes Handy.
Melica war so tief in ihrem Kummer versunken, dass sie den Mann mit dem breiten Brillengestell erst bemerkte, als es bereits zu spät war. Ihr Verstand realisierte Luzius erst, als sie direkt in ihn hineinlief. Und zwar wortwörtlich. Für den kurzen Augenblick, in dem ihr Gesicht direkt in seinen Kapuzenpullover gedrückt wurde, spürte sie eine unheilvoll versengende Hitze, die sich in rasender Geschwindigkeit in ihrem gesamten Körper ausbreitete. In der nächsten Sekunde zuckte sie auch schon zurück, brachte sicherheitshalber zwei, drei Meter Abstand zwischen sich und den psychopathischen Irren. Dieser beobachtete ihre Bemühungen mit einem breiten Lächeln. „Hast du wirklich geglaubt, dass ich dich nicht finden würde?“ Seine Stimme hatte sich verändert. So nichtssagend und gewöhnlich sie vorher gewesen war, so außergewöhnlich klang sie nun. Nicht im positiven Sinn außergewöhnlich.
„ Ich hatte nicht gedacht, dass du mich überhaupt suchen würdest“, antwortete Melica, während ihr Blick die Umgebung absuchte. Obwohl für einen Samstagmorgen
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