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Kein Schatten ohne Licht

Kein Schatten ohne Licht

Titel: Kein Schatten ohne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Guenter
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verhältnismäßig wenig Personen unterwegs waren, gab es noch immer genug Zeugen. Erleichterung überlagerte ihre Angst. Luzius konnte ihr nichts tun. „Ehrlich, Luzius, was willst du eigentlich von mir?“
    Luzius Lippen verzogen sich zu etwas, das mehr an das Zähnefletschen eines Wolfes erinnerte als an ein ehrliches Lächeln. „Es ist wirklich bedauerlich, dass sie dir die Erinnerungen genommen haben.“ Er gab Melica allerdings nicht einmal die Möglichkeit, echte Verwirrung zu empfinden. Stattdessen machte er einen großen Schritt auf sie zu und packte sie am Oberarm. „Kommst du freiwillig mit mir mit oder muss ich dich zwingen?“
    „ Ich gehe gar nicht mit!“, fauchte Melica und versuchte, sich loszureißen. Es wäre wohl einfacher, ihren Arm aus einem Schraubstock zu befreien.
    Luzius hielt sie mit einem gönnerhaften Lächeln im Gesicht fest. „Für wie schwach hältst du mir eigentlich?“
    „ Ich...“ Melica überlegte, ob sie lieber seine Frage beantworten oder sich auf die Suche nach Hilfe machen sollte. Sie überlegte nicht lange. „Hilfe!“, brüllte sie aus voller Kehle. „Vergewaltigung! Ich kenne diesen Mann nicht! Ich brauche Hilfe!“
    Ihre Sommerverteidigungskurse machten sich nicht bezahlt. Niemand drehte sich um, niemand schenkte ihr auch nur einen Hauch von Beachtung. Melica war schockiert.
    Luzius war es nicht. Sein leises Lachen drang tief unter ihre Haut. „Glaubst du wirklich, ich würde zulassen, dass sie dich hören?“
    Das nasse, kalte Gefühl von Angst lähmte Melicas Körper. Kein Wort gelang aus ihrem Mund.
    „ Damit hast du wohl nicht gerechnet“, erkannte Luzius gut gelaunt und legte seine freie Hand auf ihren Rücken. „Dann lass uns mal losgehen.“
    Luzius Hand stach unangenehm in ihren Rücken, doch Melica bewegte sich nicht von der Stelle. Es mochte diesem Psychopathen vielleicht möglich sein, zu verhindern, dass die anderen Menschen auf sie aufmerksam wurden, doch sie würde es ihm nicht so einfach machen, ihm widerstandslos zu folgen. Der Druck auf ihren Rücken wurde immer härter. Schnell hatte er die Grenze des Unerträglichen erreicht. Wer auch immer Luzius sein mochte – er war unglaublich stark. So stark, dass Melica schon nach wenigen Sekunden ihren Vorsatz und ihren Stolz verwarf und einfach losschritt. Dabei suchte sie verzweifelt die Blicke der Passanten, die ihnen entgegenkamen.
    Keiner beachtete sie. Stattdessen starrten alle mit einem seltsam benebelten Gesichtsausdruck an ihr vorbei. Niemand schien seine Umwelt wirklich wahrzunehmen. Melica beobachtete schockiert, wie ein kleines Mädchen geradewegs gegen den Stamm eines breiten Baumes prallte. Allerdings sah sie nicht so aus, als würde sie irgendeinen Schmerz verspüren, als sie einen Schritt zurückmachte und dann teilnahmslos am Baum vorbeiging. Aus ihrer Nase lief Blut.
    „ Was passiert hier gerade?“ Obwohl Melica nur flüsterte, trug die Luft ihre Stimme kilometerweit. Das Universum war nicht mehr dasselbe, es schien, als hätte Luzius es geschafft, die naturwissenschaftlichen Gesetze vollkommen außer Kraft zu setzen.
    „ Was glaubst du denn, was passiert?“ In seiner Stimme schwang ein Lachen mit. „Ich bringe dich nach Hause. Jetzt. Endlich.“

~*~
    Wie sich herausstellen sollte, handelte es sich bei ihrem Zuhause seit Neuestem um ein Hotel. Es war ein großer Backsteinbau, von abgenutzter, roter Farbe und mit hohen, bogenförmigen Fenstern. Wie jeder in Hamburg kannte Melica das Gebäude. Früher einmal war es ein beliebtes Luxushotel gewesen, doch dann hatte sich der Eigentümer vor einigen Jahren dazu entschlossen, sich aus dem Hotelgeschäft zurückzuziehen. Erstaunlich daran war, dass er das Hotel an niemanden verkauft hatte. Stattdessen stand das Gebäude all die Jahre lang leer und verfiel mit jeder Sekunde ein wenig mehr. Man konnte den Putz förmlich von den Mauern rieseln sehen. Allerdings war Melica wohl kaum hier, um das Gebäude zu beurteilen, in welchem sie festgehalten werden sollte.
    „ Solltest du nicht eigentlich dafür sorgen, dass ich nicht weiß, wo du mich gefangenhältst?“, fragte sie leise. Sie hatte sich merklich beruhigt, war in den letzten Minuten gelassener und vor allem auch gefasster geworden. Wahrscheinlich war es dumm von ihr, doch sie konnte Luzius einfach nicht ernst nehmen. Er konnte vielleicht den Willen anderer so weit brechen, dass sie gegen Bäume rannten, doch er schien von Entführungen in etwa genauso viel Ahnung zu haben wie sie

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