Kein Schatten ohne Licht
Direkt in sein so verdammt unauffälliges Gesicht. Teufel hin oder her – sie hasste ihn. Dafür, dass er sie entführt hatte. Dafür, dass er ihr ihre Schwestern stahl. Dafür, dass er ihr Angst machte. Mit jeder Stunde, mit jeder Sekunde, die verstrich, wünschte sie sich mehr, dass er sie von ihrer Einsamkeit erlöste. Sie wollte lieber auf der Stelle sterben, als hier bis in alle Ewigkeit den Wahnsinn zu bekämpfen.
„ Ich hoffe, ich störe nicht, Prinzessin.“ Die unsagbar kühle Stimme verriet zu gut, wie ernst diese Worte gemeint waren, doch Melica war es egal. Sie sprang vom Bett auf, strich sich durch die Haare und verzog gequält das Gesicht, als sie dabei mehrere Strähnen gleichzeitig herausriss. So wie es aussah. nahmen selbst kurze Haare Tage ohne einen Kamm nicht einfach gleichgültig hin.
Diana musterte sie schadenfroh. „Du siehst schrecklich aus. Kaum vorstellbar, dass Luzius tatsächlich etwas an dir findet.“
„ Du kannst ihn haben, wenn du willst“, schlug Melica vor und klang dabei, als spreche sie von einem gebrauchten Staubsauger und nicht vom Fürsten der Unterwelt.
Diana schüttelte den Kopf. Ungläubig sah sie aus, fast vorwurfsvoll. „Es ist lächerlich, wie wenig du dein Glück zu schätzen weißt. Es gibt Personen, die für deine Position töten würden.“
„ Vielleicht hat mich Luzius ja genau deshalb ausgewählt“, erwiderte Melica unglücklich. „Weil ich nicht töten würde. Gar nicht töten kann.“
Dianas schönes Gesicht verzog sich zu einer widerlichen Fratze. „Du irrst dich, Prinzessin. Es ist genau andersrum. Luzius ist wie du, du bist wie er. Ihr unterscheidet euch in keiner Zelle. Er ist dein Ebenbild. Nur deshalb hat er dich ausgewählt. Der Tod steckt in dir, das Töten ist in deinem Blut. Du musst nur noch lernen, es herauszulassen.“
In den letzten Tagen hatte Melica ja vieles gehört, das logisch betrachtet einfach Unsinn war. Dianas Worte toppten jedoch alles.
„ Welche Drogen hat der dir denn verabreicht?“
„ Du wirst es noch einsehen“, erwiderte Diana unbekümmert. „Wie dem auch sei. Luzius erwartet dich zum Frühstück. Du solltest dich etwas frischmachen. Eine Dusche wäre nicht schlecht. Du stinkst.“
Wahrscheinlich tat Melica das sogar. Nichts könnte ihr gleichgültiger sein. „Ich fühle mich frisch genug.“
„ Wenn du meinst. Bei dir ist ohnehin nicht viel zu retten.“ Diana nickte in Richtung Tür. „Dann los. Dein Zukünftiger wartet schon auf dich.“
~*~
Ihr Zukünftiger wartete tatsächlich auf sie. Nun, zumindest wenn man geistesgestört genug war, um Luzius als solchen zu bezeichnen. Melica hätte ganz andere Namen gewählt, doch ihre Meinung interessierte ja niemanden. Was sie allerdings nicht davon abhielt, sie trotzdem lauthals kundzutun: „Ich werde dich nicht heiraten! Und ich werde auch nicht zusammen mit dir frühstücken!“
Luzius sah verwirrt aus. „Frühstück?“
Vielleicht versuchte er ja, witzig zu sein. Anders konnte sich Melica seine Frage nicht erklären. Sie breitete die Arme aus, wild gestikulierend und mit hektisch umherschweifendem Blick. Ein großer Raum. Eigentlich ein richtiger Saal, mit einer hohen Flügeltür, hellen Wänden und schwerem, rotem Teppich. Links von ihr, rechts von ihr – überall standen Tische, mit matten, weißen Tischdecken, Tellern, Besteck und Gläsern. Und Kerzen. Auf jedem Tisch, in jeder Ecke standen sie und tauchten den Raum in einen geheimnisvollen Glanz.
Melica fühlte sich, als hätte Diana sie in einen alten, unheimlich kitschigen Bollywoodfilm geführt. Würde Luzius plötzlich aufspringen und mit einigen halbnackten Männern eine perfekte Choreographie tanzen, wäre sie auch nicht wirklich überrascht.
„ Setz dich endlich!“ Oh oh. Hatte sie ihn wohl ein wenig zu lange ignoriert. Mit einem leisen Seufzen kam sie seiner Aufforderung nach. Nun saß sie ihm direkt gegenüber, er auf einer breiten Sitzbank, sie auf einem weichen Stuhl. Zwischen ihnen ein gedeckter Tisch. Melica fühlte sich alles andere als wohl.
„ Ich hoffe, dein neues Zuhause gefällt dir“, begann Luzius. „Ich habe nicht viel Ahnung davon, doch Diana hat mir versichert, dass es sehr stilvoll sei.“
„ Es gefällt mir nicht.“ Wenn er Smalltalk wollte, schön, dann sollte er Smalltalk bekommen.
Allzu begeistert sah er allerdings nicht aus. „Warum nicht?“
„ Wenn ich Urlaub mache, möchte ich in einem Hotel schlafen. Doch ich möchte in keinem leben. Vor allem nicht
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