Kein Schatten ohne Licht
„Ich kann dir deine Fragen nicht beantworten“, sagte er schließlich. „Ich darf es nicht. Doch wenn du Luzius darauf ansprichst, wird er dir alles erklären. Solange du ihm nicht verrätst, dass ich dir den Jungen gezeigt habe, sollte keiner von uns in Schwierigkeiten geraten können.“
„ Wenn Luzius nicht will, dass ich von dem Jungen erfahre – warum hast du mich dann zu ihm geführt?“, fragte Melica stirnrunzelnd.
„ Es gibt Sklaven, die es verdient haben, Sklaven zu sein. Ich bin keiner davon.“
Melica blinzelte irritiert. „Du meinst, du rebellierst gegen deinen...“ Sie brach ab, als ihr bewusst wurde, dass sie keine Ahnung hatte, in welcher Beziehung Luzius und Jareth überhaupt zueinanderstanden.
„ Nein, Melica“, antwortete Jareth mit einem seltsamen Tonfall in der Stimme. „Ich rebelliere nicht. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde es jemals wagen, gegen Luzius zu rebellieren. Alles, was ich tue, ist, ihm ein paar Steine in den Weg zu legen.“
Irgendetwas war merkwürdig. Jareth kannte sie nicht, hatte sie noch nie gesehen und dennoch vertraute er ihr Dinge an, die ihn den Kopf kosten könnten. „Warum erzählst du mir davon?“
„ Du hasst Luzius“, antwortete Jareth ruhig. „Du hast keinen Grund, es ihm zu verraten.“
Das klang sinnvoll. Melica seufzte leise. „Weißt du, wann er mich gehen lassen wird?“
Sie hatte nicht mit Jareths Lachen gerechnet. „Lebend kommst du hier auf keinen Fall raus.“
„ Du verstehst es wirklich, jemandem Mut zu machen, was?“, erwiderte Melica niedergeschlagen.
„ Mut? Du brauchst keinen Mut!“, protestierte Jareth. „Du wirst Luzius heiraten. Wenn dieser einmal die Menschheit unterworfen hat, wirst du als seine Frau unvorstellbare Macht haben. Es hätte dich schlimmer treffen können. Viel schlimmer.“
Jareths Worte hallten dumpf in ihrem Verstand wider. „Er will die Menschheit unterwerfen?“, wiederholte sie krächzend.
„ Warum sonst sollte er der Hölle entkommen sein?“
„ Das...“ Melica schüttelte ungläubig den Kopf. „Und ihr versucht nicht, ihn aufzuhalten?“
Jareth sah nicht weniger verwundert aus als sie selbst. „Warum sollten wir so etwas tun? Melica, du verstehst etwas ganz falsch! Ich will ihn nicht aufhalten! Ganz im Gegenteil! Ich bin wirklich auf Luzius Seite! Ich will, dass er die Menschheit vernichtet! Nur deshalb haben Diana und ich überhaupt erst dafür gesorgt, dass er sich aus der Hölle befreien konnte!“
Gab es Symptome, die einen Nervenzusammenbruch ankündigten? Melica wusste es nicht und sie wollte es auch nicht herausfinden. Mit Augen, die größer waren als Tennisbälle, starrte sie ihn an. Schüttelte den Kopf. „Achso.“ Sie tat einen Schritt zurück, noch einen. Dann drehte sie sich um und rannte davon. So wie es aussah, war Luzius nicht der einzige Irre in diesem Hotel. Diana, Jareth, Luzius. Sie waren überall. Verrückt. Oder war sie es vielleicht selbst, die den Verstand verlor?
~*~
Der Teufel existierte.
Der Teufel existierte und war zurück.
Der Teufel existierte, war zurück und plante, die Menschheit zu versklaven.
Der Teufel existierte, war zurück, plante, die Menschheit zu versklaven und wollte sie heiraten.
Diese Gedanken waren die ersten, die ihr Morgen für Morgen durch den Kopf schossen. Morgen für Morgen musste sie sich dies sagen, immer und immer wieder. Sie würde verrückt werden, würde sie es nicht tun.
Doch auch mit diesem Ritual hatte Melica langsam aber sicher das Gefühl, dass sich ihr Verstand jeden Tag ein Stück weiter von ihr entfernte, klammheimlich und vielleicht sogar mit einem schlechten Gewissen. Denn mit jedem Tag, der verging, verlor die Realität mehr von ihrem Schrecken.
Melica gewöhnte sich, sah ein, akzeptierte. Sie war sich nur nicht sicher, ob Akzeptanz wirklich das war, was sie aus diesem Wahnsinn befreien würde.
Melica wusste nicht, wie spät es war, sie wusste nicht, welcher Tag es war, doch sie ahnte, dass ihr das Wissen nicht gefallen würde. Es musste eine Ewigkeit vergangen sein, seit sie das letzte Mal auch nur ein Wort mit einer Menschenseele gewechselt hatte. Menschenseele... oder auch mit Luzius. Seit seinem ganz und gar nicht teuflischen Hysterieanfall hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ein Umstand, der Melica alles andere als gefiel. Nicht, weil sie ihn so sehr vermisste. Sondern schlicht und einfach aus dem Grund, dass sie ihm liebend gern einen High five gegeben hätte. Mit einem Stuhl.
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