Kein Schatten ohne Licht
Mal, er musste es also dort abgestellt haben, bevor er sie erschreckt hatte.
Ihr Blick wurde gierig, als sie die zwei belegten Brötchen, den Apfel und die blaue Thermoskanne betrachtete. Es mochte seltsam klingen, doch ihr wurde erst jetzt bewusst, dass ihre letzte Mahlzeit einen ganzen Tag zurücklag. „Ist das für mich?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Sie wurde enttäuscht. „Nein.“
„ Aber ich habe Hunger!“
Melica hatte mit einigen Reaktionen gerechnet, doch nicht mit einem Lachen. „Hunger hast du? Bist du dir da sicher?“
Stirnrunzelnd sah sie ihn an. „Klar. Warum denn nicht?“
„ Wann hast du das letzte Mal gegessen?“
Seine Frage brachte sie etwas aus dem Konzept. „Gestern“, antwortete sie.
„ Das glaube ich nicht. Denk noch einmal genauer nach!“
„ Ich verstehe wirklich nicht, was das jetzt soll“, sagte Melica verwirrt.
„ Tu mir doch einfach den Gefallen!“
Sie seufzte leise. „In Ordnung.“ Ihr Verstand begann zu arbeiten. Dass sie nichts mehr gegessen hatte, seit Luzius sie mitgenommen hatte, stand ja außer Frage. Am gestrigen Morgen hatte sie auch nichts zu sich genommen. Den Abend davor hatte sie keinen Hunger gehabt. Das dazugehörige Mittagessen ausgelassen. Das Frühstück versäumt... Als Melica bemerkte, in welche Richtung ihre Gedanken drifteten, versteifte sie sich. Ein Gefühl der Panik durchflutete ihre Sinne. „Ich... erinnere mich nicht.“
„ Ich weiß.“ Seine Schadenfreude wirkte seltsam fehl am Platze, doch Melica störte sich nicht daran.
Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Ruhe zu bewahren. Tief atmete sie ein. „Seit wann habe ich nichts mehr gegessen?“ Aus irgendeinem Grund war Melica davon überzeugt, dass er die Antwort wusste.
Doch anstatt ihr zu helfen, tat Jareth nur einen Schritt vor und dann noch einen. Melica klappte der Mund auf. Er ging einfach davon! „Hey!“, rief sie wütend und lief hinterher.
„ Luzius bringt mich um, wenn ich dem Jungen nicht rechtzeitig sein Essen bringe“, sagte Jareth, ohne auch nur ein wenig an Geschwindigkeit zu verlieren.
„ Was für ein Junge denn jetzt?“ So langsam wurde ihr das alles wirklich zu viel. Sie verstand nichts!
Offenbar war ihre Frage keine Antwort wert. Jareth schenkte ihr nur einen kurzen Blick. Dann schritt er schnurstracks auf die Tür mit der Nummer 208 zu und riss sie auf. Er sah kurz über die Schulter. „Wenn du Luzius nichts verrätst, zeige ich es dir.“
Melica zögerte keine Sekunde. Sie war schneller durch den Türrahmen verschwunden, als Jareth blinzeln konnte. Nun fand sie sich in einem Raum wieder, der genauso aussah wie der, in dem sie erwacht war. Vielleicht ein wenig unaufgeräumter, doch im Großen und Ganzen war es das gleiche Zimmer. Die gleichen Vorhänge, der gleiche Teppich, das gleiche Bett. Nur dass auf dem Bett in ihrem Zimmer kein kleiner Junge gesessen hatte. Verwirrt blickte Melica den vielleicht gerade einmal zwölfjährigen Rotschopf an. Er sah ein bisschen aus wie ein kleiner Jim.
„ Wer bist du denn?“, fragte sie verwundert.
Er antwortete nicht. Ein stummes Strahlen glitt über sein Gesicht und er sprang auf und rannte auf sie zu. Als sich seine dünnen Arme fest um Melica schlangen, ergriff diese ein Gefühl der Überforderung. Hilflos erwiderte sie seine Umarmung.
Erst Jareths müdes Seufzen ließ den Jungen zurückweichen, blanke Angst lag auf seinen unschuldigen Zügen.
Misstrauisch kniff Melica die Augen zusammen. „Warum hat er solche Angst vor dir?“
„ Weil es dumm wäre, keine zu haben“, antwortete Jareth leise, während er das Essentablett auf der Kommode neben dem Bett abstellte. Der kleine Junge rührte sich nicht.
„ Iss!“, blaffte Jareth genervt. „Yvonne hat ihr Leben dafür geopfert, um dich hierher zu bringen! Jetzt dank ihr das doch, indem du nicht verhungerst!“
Der Rotschopf stürzte sich auf das Tablett, fast so, als hätte er wie Melica seit Tagen nichts mehr gegessen. Nur dass Melica im Gegensatz zu ihm nicht den Hauch eines Hungergefühls verspürte.
„ Was ist das für ein Junge?“, fragte sie Jareth. Dieser schien jedoch eine Art Krankheit zu haben, welche es ihm unmöglich machte, ihre Fragen wahrzunehmen. Welch andere Erklärung könnte es geben, warum er sie stumpf ignorierte und stattdessen dem Jungen einen abschätzigen Blick zuwarf?
„ Komm mit!“, forderte er Melica dann auf und führte sie aus dem Zimmer. Nur wenige Meter von der Tür entfernt blieb er stehen, überlegte.
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