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Kein Schlaf für Commissario Luciani

Kein Schlaf für Commissario Luciani

Titel: Kein Schlaf für Commissario Luciani Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Windhauch strich durchs Zimmer und ließ den Großen Cäsar ein Auge aufschlagen. Er ließ es kreisen, bis er den Blick des Sohnes auffing, und dann deutete er ein Lächeln an. Auch er freute sich darüber, dass die Welt weiteratmete.
    Er flüsterte etwas Unverständliches, ein Kratzen in der Kehle, aus dem man nur mit Mühe die Vokale heraushören konnte. Marco Luciani musste sein Ohr dicht an die Lippen seines Vaters bringen, seinen Atmen einsaugen, der nach Leid und Verwesung roch, und ihn mehrmals bitten, das Gesagte zu wiederholen, bis er »Blumen … raus« oder etwas in der Art zu verstehen meinte.
    |315| »Willst du rausgehen? Willst du, dass ich dich rausbringe?«, sagte er laut, damit der Vater ihn verstand.
    Cesare lächelte und bewegte leicht den Kopf.
    »Aber um die Uhrzeit wird es kühl sein«, wandte er ohne jede Logik ein.
    Der Vater lächelte wieder. Wo stand geschrieben, dass man nicht im Freien sterben durfte?
    Marco Luciani deckte ihn so gut es ging mit dem Plaid zu, zog ihm ein paar dicke Baumwollsocken an und hob ihn ohne große Anstrengung hoch. Der Große Cäsar hatte die Miene eines Kindes, das sich in den Armen des Vaters in Schlaf fallen lässt.
    Wer weiß, wie oft er das mit mir gemacht hat, dachte Marco Luciani, während er die Tür mit dem Ellbogen aufschob. Oder vielleicht auch nicht, zu seiner Zeit waren die Kinder bis zum dritten Lebensjahr noch Sache der Mutter gewesen, und oft auch danach noch; schlaflose Nächte, Milchfläschchen und Windeln waren damals noch Aufgabe der Gattin, oder der Amme gewesen; den Vätern oblag, noch mehr zu arbeiten, noch mehr zu verdienen, und mit der Zeit dann Zeugnisse zu begutachten, Prämien und Strafen zu verteilen. Früher, als die Rollen zwischen Vater und Sohn noch klar verteilt waren. Und vielleicht konnten sie deshalb jetzt, auf ganz natürliche Weise, diese Rollen tauschen.
    Er ging hinaus in den Garten, legte den ausgemergelten Leib des Großen Cäsar auf die mit Kissen gepolsterte Chaiselongue und trug diese neben den Feigenbaum, vor das Panorama von Camogli.
    Hätte ich früher daran gedacht, dann hätte ich ihm den Sonnenuntergang zeigen können, dachte Luciani, aber das wäre zu traurig und melodramatisch gewesen. Sie warteten stumm darauf, dass es dunkel wurde, dass in der Ferne an der Küste die Lichter angingen und draußen auf dem Meer |316| die Beleuchtung der Schiffe. Dann stellte Marco Luciani den Gartenscheinwerfer aus, und über ihnen ging ein Stern nach dem anderen auf.
    Cesare atmete immer tiefer. Der Kommissar nahm seine Hand und spürte, dass dieser, wenn auch mit Mühe, auf den Druck reagierte. Er hatte Gänsehaut, und eine Träne hing zwischen Nase und linker Wange.
    Ihm ist kalt, dachte er und verscheuchte den Gedanken, dass es Angst sein könnte. Er nahm einen Liegestuhl, deckte sich mit einem Handtuch zu, legte sich neben seinen Vater, ergriff wieder dessen Hand und fing zu sprechen an:
    »Weißt du, was meine früheste Erinnerung ist? Wie ich eine Christbaumkugel aß. Sie war grün, aus Glas. Ich muss zweieinhalb gewesen sein, vielleicht drei, ich muss sie für einen Apfel gehalten haben, offensichtlich war ich damals schon nicht besonders helle. Und so ist das früheste Bild, das ich aus meiner Kindheit habe, dein Gesicht, das mich anschaut und sagen will: ›Was hast du denn gemacht?!‹ Mein Mund war voller Blut, Mutter nahm mich auf den Arm und trug mich ins Bad, und vor dem Spiegel holte sie mir die Scherben aus dem Mund, während ich heulte. Damals lebten die Großeltern noch, Tante Rina war auch da, und danach fühlte ich mich wie ein Held. Das mit dem Fernseher … nein, daran kann ich mich nicht erinnern, ihr habt mir tausendmal erzählt, wie ich den vom Tisch gezogen habe und er auf mir implodiert ist, ohne dass mir etwas passiert wäre, da war ich vielleicht zwei. Jedes Kind, das es bis ins Erwachsenenalter schafft, kommt einem Wunder gleich, glaub mir. Als du mich am Meer gerettet hast, das habe ich noch genau vor Augen, ich hatte einen Schwimmreif, ein Kind schubst mich, und ich drehe mich um die eigene Achse, Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh’, du springst in die Wellen, um mich zu retten, und das erste, was ich dich frage, ist: ›Aber Papa, |317| seit wann schwimmst du denn mit Hut?‹ Das sollte kein Scherz sein, aber der ganze Strand lachte sich tot. Und ich erinnere mich, wie du mir ›Italia in miniatura‹ 1 zeigtest, oder an das erste Mal, dass ich Venedig sah, und diese

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