Kein Schlaf für Commissario Luciani
Aussagen von Anwohnern und Verdächtigen und glich diese mit den neuen Zeitangaben ab. Seine Entdeckung konnte eine Wahrheit ans Licht bringen, die er sich nicht hätte träumen lassen, aber er war nicht sicher, ob er diese Wahrheit wollte. Er hoffte die ganze Zeit, dass die Meldung von Merlis Festnahme eingehen würde oder zumindest ein glaubwürdiger Hinweis – nach all den Fehlalarmen des vergangenen Tages. Er musste ihn finden, und Merli musste den Mord an Barbara gestehen, wenn Giampieri dieses nervöse Flimmern loswerden wollte, das sich auf seinen Magen gelegt hatte.
Als er etwa dreißig Meter vor seinem Haus parkte, meinte er, an der Hausecke einen Schatten zu sehen. Er öffnete noch einmal die Wagentür, als ob er etwas vergessen hätte, |307| und während er so tat, als wühlte er im Handschuhfach, nahm er die Pistole aus dem Schulterhalfter und steckte sie in den Hosenbund. Er knöpfte das Jackett zu, schloss die Autotür und ging, möglichst ungezwungen, Richtung Haustür. Seine Sinne waren hellwach, beim ersten Anzeichen von Gefahr würde er sich auf den Boden werfen. Warum sollten sie es auf mich abgesehen haben?, dachte er. Ich habe mir keinen Fehltritt geleistet, nach Sicherstellung des Computers. Vielmehr müsste die Hausdurchsuchung bei Merli sie beschwichtigt haben, er ist ein kleiner Fisch. Es sei denn, sie haben Angst, Merli könnte mich zu jemand anderem führen.
Um die Haustür zu öffnen, musste er der Straße den Rücken zuwenden. Er merkte, wie seine Hände zitterten, als er zwei, drei Mal vergeblich versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Schließlich schaffte er es. Sollte er besser den Aufzug oder die Treppe nehmen? Keine Frage: die Treppe. Die Idee, sich in einen in der Luft schwebenden Käfig zu sperren, schien ihm nicht gerade genial.
Er stieg vorsichtig hoch und lauschte, ob sich in den oberen Stockwerken etwas rührte oder ob unten die Haustür ging. Er kam am ersten, am zweiten, am dritten Stock vorbei. Das Licht im Treppenhaus ging früher aus als gedacht, er wollte sich auf das rote Signallämpchen des Schalters stürzen, blieb dann aber stehen, presste sich an die Wand und horchte in die Dunkelheit. Immer noch nichts, nur das heftige Pochen seines Herzens.
Angst. Er hatte nie gelernt, seine Angst zu beherrschen. Und doch musste es eine Möglichkeit geben. Vielleicht war die Methode, just an dieser Stelle zu bleiben und die Angst zu bezwingen, während sie ihm unter die Haut kroch, sich weiter auf klares Denken zu konzentrieren und die Atmung zu kontrollieren. Das war sein großes Handicap als Polizist: dass er seine Angst nicht beherrschte. Auch deshalb blieb er |308| lieber im Büro, vor einem Computer, außerhalb jeder Gefahrenzone. Aber jetzt war die Gefahr zu ihm gekommen.
Er schaltete das Treppenlicht wieder ein. Sein Hemd war schweißnass und eisig. Er kam an die Wohnungstür. Sie schien in Ordnung, keine Stemm- oder Bruchspuren. Aber es war ein Leichtes, auf den Balkon und von dort in sein Apartment zu gelangen.
»Nur Mut«, seufzte er und drehte mit der Linken den Schlüssel um, während er in der Rechten die entsicherte Pistole hielt. »Wie heißt es im Film: Man stirbt nur einmal.«
Er drückte auf den Lichtschalter. Er war fast sicher, dass es nicht angehen würde, und dann war klar, dass er erledigt war. Doch das Licht ging an, erleuchtete die Diele, die still wie immer schien. Er ging weiter ins Wohnzimmer, die Waffe im Anschlag, und von dort in die Küche. Nichts. Die Badtür war geschlossen. Er ließ sie immer geschlossen. Er öffnete langsam. Nichts. Blieb das Schlafzimmer. Die Tür war zu. Er konnte sich nicht erinnern, sie geschlossen zu haben. In diesem Moment hielt er die Anspannung nicht mehr aus, er stürmte Richtung Schlafzimmer, trat die Tür auf und warf sich, die Waffe mit beiden Händen haltend, hinein: »Ihr Dreckschweine! Dreckschweine! Kommt raus, ihr Schweine!«
Das Zimmer war leer. Unter dem Bett war niemand. Im Schrank nur Kleider. Der Ingenieur setzte sich aufs Bett, sicherte die Waffe, lachte laut auf, dann bekam er plötzlich einen Heulkrampf, der ihm die Luft nahm und ihn sauer das Mahl von McDonald’s aufstoßen ließ. Er schaffte es, sich nicht zu übergeben, und nach einigen tiefen Atemzügen spürte er, dass die Angst sich endlich löste. Sie kam, wann und wie sie wollte, eine vollkommen unkontrollierbare chemische Reaktion.
Er zog Schuhe und Socken aus, warf das Jackett und das schweißnasse Hemd in eine Ecke und
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