Kein Schlaf für Commissario Luciani
auch immer sie uns kontaktieren möchte.«
Dann begann das Gemetzel. Vilfredo Rossi stand alle Zeit der Welt zur Verfügung, um ein Indiz nach dem anderen, das die Staatsanwaltschaft angeblich in Händen habe, zu demontieren, |136| oder zumindest die Indizien, seien sie nun richtig oder falsch, die zur Presse durchgesickert waren. Hin und wieder schaltete sich der Kriminologe ein, um ein Detail zu verdeutlichen oder nachzufragen, aber da auch er für Manteros Unschuld plädierte und von einem weiblichen Täter ausging (»Um die Tatwaffe zu verstecken, brauchte man eine Handtasche oder einen Staubmantel.«), stellte er keinen Gegenpart dar. Der Journalist erteilte, in Ermangelung der Serra, hin und wieder der Schauspielerin das Wort und fragte, was sie getan hätte, oder was sie besser gesagt in ihrer Filmrolle an Stelle der Staatsanwältin getan hätte. Der Prälat erklärte, er habe Manteros Vater Oddone sehr gut gekannt, einen Mann von tiefem Glauben, einen Wohltäter, der sich für die Schwachen eingesetzt habe, im Übrigen Neffe eines Missionars, dessen Seligsprechungsprozess von Karol Wojtyla persönlich initiiert worden sei und nun bei der Kongregation für die Heiligsprechungen liege. Auch Sohn Giulio, sagte er, sei ein prima Junge, er widme sich mit christlicher Nächstenliebe verschiedenen ehrenamtlichen Tätigkeiten, ohne jemals die öffentliche Aufmerksamkeit zu suchen, denn die wahre Nächstenliebe zeige sich im Verborgenen. Seine einzigen Schwächen seien, wie der Würdenträger hinzufügte, Schüchternheit und Sanftmut, weshalb ihn selbst diese kleine Zuneigungs- und Solidaritätskundgebung schon in Verlegenheit bringe. Doch bisweilen müsse sich die Stimme der Schwachen erheben, um die Ungerechtigkeit zu bekämpfen, und dies hier sei so ein Fall.
Barbaras Eltern wurden telefonisch zugeschaltet. Sie hatten es ebenfalls nicht über sich gebracht, ins Studio zu kommen, und in den knapp zwei Minuten, die ihnen zur Verfügung standen, konnten sie gerade einmal leise Zweifel am Sinn der Sendung anmelden. Sie forderten alle auf, die Staatsanwaltschaft in Ruhe arbeiten zu lassen, ehe der Moderator sie unterbrach und mit zerknirschter Miene |137| und honigsüßer Stimme sagte: »Ich verstehe und respektiere Ihren Schmerz, den ich mir nur im Namen journalistischer Pflichterfüllung zu stören erlaubt habe. Ich will Sie nicht länger belästigen und hoffe, dass wer immer Ihre arme Barbara so grausam gemeuchelt hat, bald der Justiz übergeben wird.«
In einer anschließenden Live-Schaltung hatte der Bürgermeister von Rapallo gut drei Minuten, um wutschnaubend in die Kamera zu starren und zu erklären, dass der Mörder keiner seiner Mitbürger sein könne. »Das ist bestimmt ein Triebtäter, ein Irrer, der von sonst wo gekommen und wer weiß wohin geflüchtet ist. Zeitungen und Fernsehen schüren eine Massenparanoia, die Angst vor dem Ungeheuer, gerade jetzt, mitten in der Badesaison. Manche Leute haben schon ihre Buchungen storniert. Diese Dinge schaden nicht nur Rapallo, sondern dem ganzen Land. Es muss klar und deutlich gesagt werden, dass keinerlei Gefahr besteht, ein Irrer kann überall zuschlagen, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist er sicher meilenweit entfernt.«
»Jetzt schau dir dieses Arschgesicht an«, murmelte Giampieri.
Er wartete den Beginn der Nachrichten ab und sah zum dritten oder vierten Mal das braungebrannte Gesicht der Serra, die, von zwei Beamten in Zivil eskortiert, in der Staatsanwaltschaft eintraf. Diese Sequenz war am Morgen gedreht worden und würde in den nächsten Tagen Dutzende, wenn nicht Hunderte Male wiederholt werden. Sie hatte mit einem Belagerungszustand gerechnet und präsentierte sich in Bestform, in beigem Armani-Kostüm und mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, die ihrem Gang Verve und Sex-Appeal verliehen. Die Spitzen ihrer roten Haare waren frisch geschnitten, die Pupillen ihrer großen Augen durch das Xanax leicht geweitet, doch im Kreuzfeuer |138| der Fragen war die aufgesetzte Gelassenheit in ihrem Gesicht schnell einer Miene des Unbehagens gewichen. Er spürte einen Stich in der Leistengegend, eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Begierde, und hätte sie gerne angerufen, sagte sich aber immer wieder, dass es das Klügste war, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Er schaltete den Fernseher ab und packte sich ins Bett, überzeugt, dass er zum Einschlafen viel zu überreizt war. Fünf Minuten später schnarchte er.
|139| Freitag
Luciani
Die Möwen weckten ihn vor
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