Kein Schlaf für Commissario Luciani
fünf. Der erste Schrei klang wie eine chiffrierte Botschaft, ein langer Klagelaut und dann sieben, acht kurze Seufzer, auf die drei, vier, zehn Vögel mit einem je eigenen Erkennungsruf antworteten: das Geplärr eines Säuglings, Hundebellen und eine fiese Lache. Dies ging fast eine halbe Stunde so, mit der Arroganz der selbsternannten Herren der Dächer. Sie hatten die Tauben zu ihrer neuen Leibspeise erkoren und zu Hackfleisch gemacht und unterjochten auch die Ratten, die sich inzwischen mit den Brosamen begnügten. Marco Luciani döste noch einmal ein, ehe um Viertel vor sechs ein neuer Weckruf kam: der LKW mit den Zeitungen, gefolgt vom Milchwagen. Von halb sieben bis sieben war Ruhe, dann begann die Warenauslieferung, und um zwanzig vor acht hörte er die ersten Hammerschläge der Bauarbeiter.
Nach drei Minuten ließ ihn das Telefon hochschrecken, er sah das Bild seines Vaters vor sich, der tot im Bett lag, daneben die Mutter, den Hörer in der Hand.
»Herr Kommissar. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt, ich weiß ja, dass Sie zu den Frühaufstehern gehören.«
Der hatte gerade noch gefehlt: der schnuckelige Iaquinta, dachte Marco Luciani. Es gab nichts Schlimmeres am frühen Morgen als die Stimme des Polizeichefs.
Da Luciani noch schlaftrunken war, entging ihm der Großteil der Floskeln, aber der Satz: »Es wäre mir ein Vergnügen, Sie zum Essen einzuladen«, weckte ihn endgültig.
Marco Luciani suchte schnell nach einer Ausrede. »Tut mir leid, aber heute Morgen bin ich sehr beschäftigt.«
|140| »Nein, ich meinte ja auch zum Mittagessen. Gegen eins. Es gibt da ein Lokal, das wirklich ganz ausgezeichnete Fisch-Ravioli kredenzt.«
Der Kommissar kämpfte mit dem Brechreiz. »Können Sie mir nicht am Telefon sagen, wo das Problem liegt?«
Der andere ließ sich nicht abwimmeln, redete von einer »heiklen Angelegenheit«, appellierte an sein »staatsbürgerliches Gewissen«, deutete eine vage »Gefahr« an, in der Giampieri schwebe. Da gab es für den Kommissar keine Ausflüchte mehr, aber die Ravioli würde er nicht schlucken.
»Wenn Sie wollen, können wir einen Kaffee trinken, ehe ich mich auf den Weg mache … Passt Ihnen zehn Uhr?«
»Einverstanden.«
Er nannte eine Bar in der Via San Lorenzo, und der Chef erwiderte eilfertig: »Sehr gut, sehen wir uns dort, Herr Kommissar. Und danke.«
In all den Jahren der Zusammenarbeit hatte er sich nicht ein Mal bei Luciani bedankt. Und er hatte nie diesen salbungsvollen Ton angeschlagen. Es gab keinen Zweifel: da war Unheil im Anzug.
Er kam absichtlich eine Viertelstunde zu spät. Das Vergnügen, den Polizeichef warten zu lassen, wollte er sich nicht entgehen lassen, nachdem er in der Vergangenheit so oft in dessen Vorzimmer geschmort oder tagelang vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte. Er ließ sein Auge über die Gäste schweifen, die an den Tischen im Freien saßen, aber Iaquintas kleines Mopsgesicht war nirgends zu sehen. Als er gerade eintreten wollte, hörte er seinen Namen rufen: »Herr Kommissar, was für ein Timing!«
Der Polizeichef streckte Luciani lächelnd die Hand hin, zufrieden, dass er sich nicht für seine Verspätung entschuldigen musste und doch erst nach dem Kommissar eingetroffen war.
|141| Marco Luciani drückte ihm ziemlich heftig die Hand, aber der andere schien es nicht zu bemerken. Er war klein, kleiner als eins siebzig, und untersetzt. Er wog mindestens dreißig Kilo mehr als Luciani, und diesen Kilos hatte er seinen Spitznamen zu verdanken.
»Wie geht es, Herr Kommissar?«
»Sehr gut, danke.«
»Der Urlaub läuft gut? Sie langweilen sich nicht?«
»Absolut. Absolut nicht.«
Luciani bestellte ein Lemonsoda, der Polizeichef einen Espresso.
»Mein lieber Herr Kommissar, ich habe mir gestattet, Sie mitten in Ihrem Urlaub … wollen wir ihn so nennen? … zu stören, weil ich wissen will, ob Sie ein bisschen nachgedacht haben über Ihre leicht impulsive Entscheidung, wenn wir sie so definieren wollen, die für mich eine schmerzliche Überraschung darstellte … eine Entscheidung, die sicher durch … eine gewisse Demoralisierung … diktiert wurde.«
Marco Luciani runzelte die Augenbrauen.
»Sie werden sich erinnern, dass ich mir, im Sinne meiner persönlichen Erfahrungen und der Wertschätzung und Zuneigung, die ich Ihnen entgegenbringe, angesichts Ihres Entlassungsgesuches gestattete, nicht persönlich, weil ich Sie gut genug kenne und weiß, dass Sie in jenem Augenblick auf mich nicht gehört hätten, sondern
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