Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
öffneten. Wir hatten uns darauf aneinander gekuschelt, um uns Einer flog übers Kuckucksnest, Die durch die Hölle gehen oder alte Hitchcock-Filme anzusehen. Wir hatten hier unsere Hausaufgaben gemacht, ich aufrecht sitzend, Elizabeth lang ausgestreckt, den Kopf in meinen Schoß gelegt. Hier hatte ich Elizabeth erzählt, dass ich Arzt werden wollte - ein berühmter Chirurg oder so etwas, wie ich damals glaubte. Hier hatte sie mir erzählt, dass sie Jura studieren und mit Kindern arbeiten wollte. Elizabeth konnte es einfach nicht ertragen, wenn Kinder litten.
Ich erinnere mich noch an ein Praktikum, das sie in den Semesterferien nach unserem ersten Jahr auf der Uni gemacht hatte. Sie arbeitete für Covenant House und versuchte, obdachlose und von zu Hause ausgerissene Kinder von New Yorks übelsten Straßen zu holen. Ich habe sie einmal im Covenant-House-Wagen begleitet: Wir fuhren in der Zeit vor Bürgermeister Giuliani die 42 nd Street auf und ab und durchsiebten verkommene Ansammlungen vermeintlich menschlicher Wesen nach Kindern, die eine Zuflucht suchten. Elizabeth entdeckte eine vierzehnjährige Prostituierte, die so weggetreten war, dass sie in die Hose gemacht hatte. Ich ekelte mich vor Abscheu. Ich bin keineswegs stolz darauf. Vielleicht waren diese Leute menschliche Wesen, aber - um ganz ehrlich zu sein - der Dreck, in dem sie lebten, widerte mich an. Ich habe geholfen. Aber ich musste mich überwinden.
Elizabeth brauchte sich nicht zu überwinden. Sie hatte einfach ein Talent dafür. Sie nahm die Kinder an die Hand. Sie trug sie auf dem Arm. Sie säuberte das Mädchen, versorgte es und unterhielt sich die ganze Nacht mit ihm. Sie sah den Kindern in die Augen. Elizabeth glaubte fest daran, dass alle Menschen gut und edel sind. Sie war auf eine Art naiv, wie ich es auch gerne wäre.
Ich habe mich oft gefragt, ob sie auch so gestorben ist, ob sie diese Naivität behalten hat, ob sie angesichts ihrer Schmerzen weiter an ihrem Glauben an die Menschen und dem ganzen dazugehörigen wunderbaren Blödsinn festgehalten hat. Ich hoffte es für sie, aber ich nahm an, dass KillRoy sie gebrochen hatte.
Kim Parker saß stocksteif auf dem Sofa, die Hände im Schoß gefaltet. Sie hatte mich immer gern gemocht, obwohl unserer beider Eltern wegen der Enge unserer jugendlichen Freundschaft zeitweise recht besorgt gewesen waren. Wir sollten mehr mit anderen spielen. Wir sollten uns auch andere Freunde suchen. Ich kann es ihnen nicht verdenken.
Hoyt Parker, Elizabeths Vater, war noch nicht zu Hause, also unterhielten Kim und ich uns ein bisschen über Gott und die Welt - oder, um es anders auszudrücken, über alles außer Elizabeth. Ich sah Kim die ganze Zeit an, weil ich wusste, dass auf dem Kaminsims jede Menge Fotos der herzzerreißend lächelnden Elizabeth standen.
Sie lebt …
Ich glaubte es selbst nicht. Wie ich aus der psychologischen Ausbildung im Medizinstudium weiß (von meiner Familiengeschichte gar nicht zu reden), besitzt das Gehirn eine unglaubliche Kraft, Fakten zu entstellen. Ich hielt mich nicht für so verrückt, dass ich Elizabeths Bildnis heraufbeschwor, doch das tun Verrückte eigentlich nie. Ich dachte an meine Mutter und fragte mich, inwieweit sie sich ihrer geistigen Verwirrung bewusst oder ob sie überhaupt zu einer realistischen Selbsteinschätzung fähig war.
Wahrscheinlich nicht.
Kim und ich sprachen über das Wetter. Wir sprachen über meine Patienten. Wir sprachen über ihren neuen Teilzeitjob bei Macy’s. Und dann hätte Kims Frage mich vor Überraschung fast umgeworfen.
»Hast du eine Freundin?«, erkundigte sie sich.
Das war die erste wirklich persönliche Frage, die sie mir je gestellt hatte. Ich wich etwas zurück. Dann fragte ich mich, was sie von mir hören wollte. »Nein«, sagte ich.
Sie nickte und sah aus, als wollte sie noch etwas dazu sagen. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Aber ich verabrede mich gelegentlich mit Frauen«, fügte ich hinzu.
»Gut«, antwortete sie mit einem fast euphorischen Nicken. »Das musst du auch.«
Ich blickte auf meine Hände herab und war selbst überrascht, als ich mich sagen hörte: »Sie fehlt mir immer noch sehr.« Das hatte ich nicht geplant. Ich hatte schweigen und unseren üblichen, sicheren Pfad nicht verlassen wollen. Ich sah ihr ins Gesicht. Ihre Miene wirkte gequält, aber dankbar.
»Ich weiß, Beck«, sagte Kim. »Aber du darfst keine Schuldgefühle haben, wenn du dich mit anderen Frauen triffst.«
»Habe ich auch
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