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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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progressive Beherrschung geht einher mit der Entwicklung der Gehirnlappen: Das Gehirn organisiert sich um die Sprache herum, während die Sprachedas Gehirn strukturiert. Dies ist der Grund dafür, dass man über das sechste Lebensjahr hinaus keine sogenannte »Muttersprache« mehr erwerben kann … Aber ich will hier nicht von der Ontogenese der Sprache reden, andere Vortragsgäste werden darauf zurückkommen, und ich möchte mich nicht auf deren Terrain vorwagen. Übrigens lautet die Frage auch nicht, was angeboren und was ererbt ist, sondern es geht erstens darum, herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt in der genetischen Geschichte einer Population von Primaten die Mutationen stattgefunden haben, die die Herausbildung der Sprechfähigkeit ermöglichten, und zweitens darum, in welchem Entwicklungsstadium beim Individuum die neuronalen Verbindungen entstehen, die zur Sprache führen. Hier warten wir noch auf den kombinierten Durchbruch in den Bereichen Ontogenese und Phylogenese der Sprache.
    Nehmen wir einfach an, dass es eine Proto-Sprache vor der Sprache gibt, so wie es auch ein Proto-Auge vor dem Auge und eine Proto-Hand vor der Hand gegeben hat. Eine Sprache aus ein paar Dutzend Wörtern nur, von der wir, wie ich fürchte, nichts wissen, denn die Sprache neigt nicht zur Fossilienbildung. Ich habe nichts gegen Platon, wenn er im
Kratylos
behauptet, dass die Wörter in Beziehung zu den natürlichen Lauten stehen. Ich verweise Sie auf den berühmten Aufsatz von Roman Jakobson: Ja, »Mama« ist mit Sicherheit ein universelles Wort, das jedes Mal aufs Neue erfunden wird, ganz einfach deswegen, weil
ma
der erste Laut ist, den ein Baby hervorbringen kann. Meinethalben kommt auch das Wort »Tiger« vom grollenden
grrr
. Und ich will auch keine Energie darauf verwenden, gegen die Gewissheiten anzukämpfen, die Merritt Ruhlen über die Weltursprache, das Proto-Nostratische,verbreitet, auch wenn für meinen Geschmack die Archäolinguistik ein etwas zu spekulativer Zweig ist – es sei denn, sie dient der Hervorbringung von Gedichten.
    Ich halte mich nur an eine Gewissheit: Diese Proto-Sprache muss einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil ausgemacht haben. Natürlich gibt es da die utilitaristische Auffassung: Die Sprache erlaubt es, die Gruppe vor einer unsichtbaren Gefahr zu warnen, auf Futterplätze hinzuweisen, eine Erfahrung weiterzugeben. Aber mehr noch gefällt mir die Hypothese, die ich die »literaristische« nennen will: Soziablen Primaten wie dem
Homo neanderthalensis
und dem
Homo sapiens
erlaubt es die Sprache vor allem, eine Geschichte zu erzählen. Die neue Überlieferung spricht: »Töte nicht deinen Nächsten, denn jemand anders hat dies früher einmal getan, und nun hör gut zu, wie es ihm ergangen ist.« Der Mythos stärkt somit den sozialen Zusammenhalt der Gruppe und konterkariert die individualistischen Bestrebungen des Intellekts. Wobei nicht vergessen werden soll, dass, manchen Evolutionsforschern zufolge, die Sprache auch einen Vorteil auf dem Gebiet der Sexualität verschafft: Angeblich zieht das Weibchen ein Männchen, das die Sprache beherrscht, einem anderen mit beeindruckenderem Körperbau vor – lieber Rimbaud als Rambo. Diese These erfreut sich vor allem unter Professoren großer Beliebtheit, insbesondere bei den weniger muskulösen.
    Der schlanke und ranke Romain wendet sich dem rundlichen Jacques zu, und dieser Pennälerwitz bringt das Publikum zum Lachen. Wie jedes Mal.
    Romain wird nicht preisgeben, wie er selbst, zehn Jahre zuvor, seinen ersten Abend mit Louise nur stotternd und stammelndverbracht hat, während seine zukünftige Frau, die so unverkrampft war, so sicher mit ihren Gefühlen umging, sich schon damals (!) zärtlich über ihn lustig machte. Nicht der junge Wissenschaftler hatte sie erobert, sie hatte ihn erwählt. Wegen seiner natürlichen Geradheit, der fast schon naiven Reinheit des Blickes, den er auf sie richtete, und wegen dieser scharfen Intelligenz, die ob seiner extremen Ungeschicklichkeit noch leuchtender hervortrat. Aber sehr rasch hatte Louise begriffen, dass seine unglaubliche Verlegenheit im Umgang mit den Worten, die sie zunächst noch als verführerisch empfunden hatte, ihr letztlich auf die Nerven gehen würde. Romain in einen unvergleichlichen Redner zu verwandeln, erschien ihr als eine Herausforderung auf ihrem Niveau. Er hatte es schnell geschafft. Aber seine neue Selbstsicherheit speiste sich nicht nur aus seinen Sprechübungen und der Qualität seiner

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