Kein Wort mehr ueber Liebe
augenblickliche Moment ihre ganze Energie beanspruche. Jetzt versteift sie sich vollends, ihr Atem stockt. Yves nimmt sie in die Arme, sie weist ihn nicht zurück. Sie lässt sich von seinen Armen um die eigene Achse drehen, Yves zieht sie an sich, ihre Lippen öffnen sich leicht, er nimmt an. Ohne ein Wort zieht er sie ins Schlafzimmer, sie lässt sich führen.
ANNA UND STAN
Der Abend nach einem Erdbeben ist ein Abend wie jeder andere. Im Kinderzimmer sitzt Léa und malt, Karl übt Klavier. In der Küche bereitet Anna das Abendessen vor, Stan deckt den Tisch. Anna erzählt von ihrem Tag. Ein kleiner autistischer Patient hat zum ersten Mal das Wort »Schokolade« ausgesprochen.
Stan stellt nur wenige Fragen. Er hört seiner Frau zu, betrachtet sie zärtlich. Bei Anna ist das Sprechen niemals eine Anstrengung. Je müder sie ist, desto unbeschwerter scheint sie zu sein.
Während des Kochens legt Anna ihre Ringe auf die Arbeitsplatte. Sie sind alle Geschenke von Stan. Ihr filigraner, von dreiunddreißig Diamanten durchschossener Ehering. Ein massiveres, antik anmutendes Stück, von dessen Preis sie keine Vorstellung hat, er ist unglaublich hoch: eine runde, auf einen Ring aus Weißgold montierte, von rohen Saphiren und Rubinen gefasste Scheibe aus Feingold. Und dann auch noch eine einfache schwarz-rote Achatperle auf einem silbernen Ring, die sie sich auf einem Markt in Avignon ausgesucht hatte, als sie und Stan noch zum Festival fuhren. Das war in der Zeit vor der Geburt der Kinder.
Anna zerschneidet eine Fenchelknolle, Rübchen und Zucchini, die sie in eine Pfanne gibt und mild würzt, dann setzt sie den gläsernen Deckel auf, der sofort beschlägt. In einem Topf kocht Reis. Auf ihrem Gesicht liegt ein trauriger, leicht genervter Ausdruck. Ihr ist so, als ob sie nicht nur Lust habe, woanders zu sein, sondern vielmehr schon woanders sei. Sie sieht ihr Leben wie durch eine Glasscheibe.
Sie gießt den Reis ab, streift die Ringe über ihre feuchten Finger. Ihr wird plötzlich klar, dass sie, wenn sie Stan verließe und Stan sich mit einer anderen Frau zusammentun würde, keinerlei Eifersucht empfände. Sie wüsste bereits alles über das Leben, das vor dieser Frau läge, Stans Zuvorkommenheit, seine Aufmerksamkeiten, selbst die Geschenke, die er ihr machen würde, kennt sie schon, sie würde sie ohne Schwierigkeiten an den Fingern und am Hals der neuen Frau wiedererkennen.
Sie kippt den Reis in eine Schüssel, denkt auch an all die Frauen, die Yves bereits gekannt hat und von denen sie nichts weiß. Sie malt sich aus, dass die Frauen glücklich sind, wie sie an seinem Arm spazieren gehen, sich an ihn schmiegen. Die Bilder sind flüchtig, aber von solch heftiger Sinnlichkeit, dass sie ganz aufgewühlt ist.
– Woran denkst du?, fragt Stan.
– Es tut mir leid, lautet Annas spontane Antwort.
Das ist keine Antwort, sondern ein Geständnis. Stan lässt sich, sollte er es denn begriffen haben, nichts anmerken und gießt den Kindern Wasser in die Gläser.
– Denkst du an den Fuchs-Fleck deines Bruders?
Anna antwortet nicht.
– Weißt du, das ist eine Erkrankung, die nur selten vorkommt.Es ist sehr gut möglich, dass ihm mit dem anderen Auge nichts passieren wird. Man muss es nur beobachten, das ist alles.
Anna nickt, zuckt mit den Schultern, ruft die Kinder.
– Karl, Léa, wir sind fertig.
Sie hat sich wieder gefasst, ihre Stimme klingt fröhlich.
LOUISE UND THOMAS
Thomas hatte einen Albtraum, den er Louise in einem ruhigen Café in der Rue de la Contrescarpe erzählt:
– Ich bin in meiner Küche, mit Maud, deiner ältesten Tochter. Du hast mir ihr Foto gezeigt, aber ich würde sie auf der Straße nicht wiedererkennen. In meinem Traum ähnelt sie ein wenig Judy Garland in
Der Zauberer von Oz
, also anders gesagt: keinerlei Ähnlichkeit. Ich bringe ihr bei, wie man Crêpes macht. In der Küche steht ein alter Fernseher, ein Gerät mit Bildröhre, und es läuft ein Film. Ein Spionagefilm, ein schwarz-weißes B-Movie . In einer Küche, die exakt genauso aussieht wie meine, sieht man eine gefesselte Frau. Von Zeit zu Zeit kommt ein Mann herein und ohrfeigt sie. Sie möchte schreien, aber sie ist geknebelt. Ich weiß, dass du diese Frau bist, auch wenn sie dir ganz und gar nicht ähnlich sieht. Und ich weiß auch, dass diese Szene, obwohl sie vollkommen belanglos ist, auf Maud erschreckend wirkt. Aber nicht eine Sekunde denke ich daran, den Fernseher auszuschalten, ich versuche nur, mich zwischen den
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