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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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dieses Katz-und-Maus-Spiel ist keine gute Idee.
    Romain schaut ihn an, senkt dann den Blick und starrt auf den Fuß der Schreibtischlampe. Sein ganzes Gesicht verschließt sich, er atmet schneller. Thomas steht auf, um nicht länger in der sitzenden und distanzierten Haltung des Analytikers zu verharren. Er geht bis zum Fenster, bewegt leicht eines der Rollos. Er wartet darauf, dass Romain seinem Zorn, seiner Trauer freien Lauf lässt. Da Louises Ehemann sich in Schweigen hüllt, spielt Thomas mit dem Rollo, das man auch – Thomas kann sich diesen Gedanken nicht verkneifen – eine »Jalousie« nennt, Eifersucht mithin:
    – Ich verstehe, dass Sie hier sind. Ich war auch neugierig darauf, Sie zu sehen, und habe mich in eine Ihrer Vorlesungen gesetzt.
    Draußen fährt ein Krankenwagen vorbei, den man durch die Tür kaum hört. Thomas lässt ihn vorbeifahren, die Sirene verstummt.
    – Da Sie hier in meinem Büro sind, erwarten Sie etwas von unserer Begegnung. Aber ich weiß nicht, was: Sie sind nicht gekommen, um mich zu bitten, Louise nicht mehr zu lieben.
    – S… sicher nicht, murmelt Romain, der in sein jugendliches Stottern zurückfällt.
    – Sie sind hier, um der Angst ein Gesicht zu geben. Das ist legitim.
    Thomas betrachtet weiter den Himmel, die Bäume im Hof. Er ist ganz gewiss nicht der, den Romain erwartet hatte.
    – Sie verstehen es nicht. Indem Sie mir ausgerechnet hier gegenübertreten, wollen Sie die Kraft finden, Louise zurückzuerobern. Aber ich bin fünf Jahre älter als Sie, zehn Jahre älter als Louise, anders gesagt, ich bin alt. Sie sind brillant, sogar berühmt. Warum also ich? Das ist fast schon schlimmer.
    Romain hat aufgeschaut. Thomas wartet noch immer darauf, dass er redet, aber Romain beobachtet die glitzernden Staubkörnchen auf den Sonnenstrahlen. Der Analytiker hebt erneut an, mit ruhiger Stimme, in einer Stille, in der der geringste Laut vernehmbar ist.
    – Sie betrachten Ihr zerstörtes Leben, als wäre es das eines anderen. Sie sind verletzt, gedemütigt. Sie haben Ihre Selbstachtung verloren. Das ist eine ganz gewöhnliche Empfindung.
    Nach jedem Satz hat Thomas eine Pause eingelegt, einen Raum ausgespart, auf dass Romain, wie er hoffte, Besitz von ihm ergreife. Aber Vidal schafft es nicht.
    – Wissen Sie, Dutzende von Personen sind schon durch diese Praxis gekommen. Menschen voller Schmerz. Meine Arbeit besteht darin, diesem Schmerz mit meiner eigenen Erfahrung von Schmerz zu begegnen. Mein Schmerz, Romain, ist eine Trauer, die weit zurückliegt.
    Thomas hat jede Emotion aus seiner Stimme herausgenommen. Er hoffte, dass Romain, wenn er ihn beim Vornamen nennt, ihm etwas entgegnet, aber der Mann hat nichts durchscheinen lassen. Thomas fährt fort:
    – Ich weiß nichts von Ihnen. Deshalb trifft das, was ich jetzt sage, vielleicht nicht auf Sie zu. Oft verleiht das Werben eines Mannes um eine Frau ihr in den Augen der andereneinen geheimnisvollen Zauber. Ich zweifle nicht an der Ernsthaftigkeit von …
    – Halt die Fresse!
    Thomas schweigt. Sehr lange verharren sie so, ohne etwas zu sagen. Es klingelt an der Tür. Der 17.3 0-Uhr -Termin. Romain klappt seinen großen Körper auseinander, der ihm an diesem Tag wie eine Bürde vorkommt. Thomas folgt ihm, öffnet die Tür der Praxis. Im letzten Augenblick dreht Romain sich um. Thomas sieht die ausgestreckte Hand, ist erstaunt, drückt sie. Romains Händedruck ist ehrlich. Er sagt nur:
    – Maud hat mir erzählt. Wegen Judith.
    Die Kehle des Riesen schnürt sich zu. Er bringt das Wort »danke« nicht heraus.

ANNA UND MORAD
    – Was ist das, Kummer?
    Das ist die Frage, die Anna von einem kleinen Jungen gestellt worden ist.
    Manchmal macht Anna, wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkommt, einen kleinen Umweg und schaut noch bei Yves vorbei; sie bleibt eine Stunde oder zwei. Sie erzählt ihm von ihrem Tag, ihren Patienten, den Fortschritten, die sie bei ihrer Arbeit machen. An diesem Tag ist eine Frau mit ihrem fünfjährigen Sohn zu ihr in die Sprechstunde gekommen. Es ist ihr zweiter Besuch, sie stammt aus Mali, ist sehr jung, spricht schlecht Französisch. Ihr kleiner Junge, Morad, ist sehr unruhig, kann sich nur schwer konzentrieren; der Kindergarten hat um die Behandlung nachgesucht. Er sitzt ganz brav da, malt mit Buntstiften einen Baum, einen Weg, das alles in dunklen Farben. Nach wenigen Sitzungen kommt eine Wahrheit zum Vorschein: Die Mutter hat es nie gewagt, ihrem Kind zu sagen, dass sein Vater zwei Jahre zuvor auf einer

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