Kein Wort zu Papa - Heldt, D: Kein Wort zu Papa
Er sah mich mit gespielter Überraschung an. »Auf wen soll ich denn warten? Nein, nein, wie gesagt, ich bin ein bisschen
spazieren gegangen, dann habe ich ein Eis …«
»Papa! Halte mich nicht für blöd.«
Er zog seinen Kopf ein bisschen ein, überlegte kurz und tastete sich an sein wahres Thema heran.
»Sag mal, du hast dich doch auch schon mit Pierre unterhalten, oder?«
»Ja.«
Unsicher kratzte er sich an der Wange. »Findest du, dass ich gute Menschenkenntnis besitze?«
Das fand ich nicht, hätte es aber nie gesagt. Also schwieg ich und guckte ihn nur abwartend an. Er nahm es als Antwort.
»Genau. Ich kann Menschen wirklich gut beurteilen. Das ging mir schon immer so. Auch mit Pierre. Das ist ein sehr netter junger
Mann. Gut erzogen, höflich, gepflegt, mit gutem Musikgeschmack, und er raucht und trinkt nicht. Er hatte eine gute Kinderstube.«
Innerlich trommelte ich vor Ungeduld mit den Fäusten, ich zwang mich, freundlich und geduldig geradeaus zu gucken.
»Ja, Papa, das stimmt. Und wo liegt jetzt dein Problem?«
»Problem?« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe kein Problem. Pierre hat eines.«
Das war typisch für meinen Vater. Ich hätte es mir denken können, dass er, der Meister aller Vorurteile, irgendwann auf diesen
Gedanken kam. Ich atmete tief durch.
»Du meinst doch bitte nicht die Tatsache, dass er schwul ist?«
Verblüfft hob mein Vater den Kopf. »Ist er das? Aber, Kind, das ist doch heute gar kein Thema mehr. Es gibt schwule Außenminister,
Bürgermeister und Schauspieler, da regt sich niemand mehr darüber auf. Dass du ein Problem damit hast, wundert mich. In deinem
Alter war ich aber lockerer.«
»Papa, ich habe kein Problem damit. Ich dachte …«
»Du dachtest! Nein, nein, es geht um ganz andere Dinge.«
Ich habe es immer schon gehasst, dass man meinem Vater wirklich alles aus der Nase ziehen musste.
»Und welche?«
Nach einem skeptischen Blick auf mich antwortete er: »Um Geheimnisse und Verbrechen. Und das hier auf Norderney.«
Einen kurzen Moment ließ ich seine Antwort einfach wirken. Dann schloss ich die Augen und öffnete sie gleich wieder. Mein
Vater hielt seinen Blick auf mich gerichtet und wartete neugierig auf meine Reaktion. Ich wurde immer geübter darin, meine
Nerven zu behalten. Ich beruhigte mich selbst: Wir hatten über Pierre gesprochen, nicht über Marleen, nicht über David Bruhn,
nicht über Dubai, nur über Pierre. Mein Vater war im Moment in einem anderen Film, er sah die »Pilcher«, ich ›Tatort‹. Das
konnte er aber nicht wissen.
Ich beugte mich lässig zu ihm. »Was hat Pierre denn für ein Verbrechen begangen? Oder ist das ein Geheimnis?« Und dabei lächelte
ich ihn auch noch an.
»Du nimmst mich nicht ernst.« Er rutschte demonstrativ ein Stück zur Seite. »Du bist anscheinend so mit diesem Tom Hansen
und deiner Internetbekanntschaft beschäftigt, dass du keinen Blick für die Dinge hast, die wirklich wichtig unddramatisch sind. Bitte, du musst dich auch gar nicht damit abmühen, lass die Welt ins Elend rutschen und geh tanzen.«
Auch wenn man meinen Vater so lange kannte wie ich, blieb seine Logik rätselhaft.
»Papa, ich habe keine Internetbekanntschaft, das habe ich dir bereits gesagt, und mit Tom Hansen bin ich vor dreißig Jahren
zur Schule gegangen, das ist auch nicht mehr aktuell. Also, jetzt erzähl schon, was ist los?«
»Pierre und Adelheid.«
»Das ist kein ganzer Satz. Sei so gut und bilde einen.«
»Pierre und Adelheid reden kaum miteinander.«
»Das weiß jeder.«
Mit zusammengekniffenen Augen sah er mich an. »Und warum wohl? Darüber macht sich keiner Gedanken. Pierre hat bei Adelheid
gewohnt, als er auf die Insel gekommen ist. Sie waren ganz dicke miteinander, er war wie der Sohn im Haus. Und plötzlich,
zack.«
Ich zuckte zusammen, weil er mir zur Bekräftigung auf den Oberschenkel schlug.
»Aua. Was heißt ›zack‹?«
»Aus die Maus. Ende Gelände. Was man so sagt. Es ist etwas passiert, was es zerrüttet hat. Ein Geheimnis. Sie reden beide
nicht darüber. Aber es hat mit Geld zu tun. Kalli und ich haben uns ein bisschen umgehört.«
Ich hatte es befürchtet. »Ihr schnüffelt hinter Pierre her? So wie damals hinter Johann?«
»Nein. Anders.« Mein Vater sah mich an. »Übrigens hatte ich nicht ganz unrecht mit meiner Skepsis bei Johann. Glücklich siehst
du ja wirklich nicht aus, von wegen große Liebe und so. Du solltest einfach öfter auf mich hören. Ich war
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