Keine Angst vor Anakondas
Platschen fallen sie in die unendliche Weite der See. Der Blick zu allen Seiten offenbart ihnen ein Strahlen und Schimmern von Lichtreflexionen in allen Blautönen. Der Blick nach unten verliert sich in einer gespenstischen Tiefe. Die beiden Männer wirken verloren und fremd in der Weite des Meeres, die erst zweieinhalbtausend Meter unter ihnen endet. Sie folgen der Leine, die zu dem Wal führt. Dumas will eine Schlinge über den Schwanz des Wales streifen, um ihn an Bord zu ziehen.
Es hat nicht vieler Flossenschläge bedurft, um sich den unbekannten Lebensformen zu nähern. Der Weißspitzen-Hochseehai schwimmt zunächst abwartend und mit großem Abstand um die fremdartigen Wesen herum. Noch nie hat er derartige Gestalten gesehen. Die Kreaturen verfügen über vier lange Fortsätze, die sie unbeholfen im Wasser bewegen. Nicht effizient, findet der Hai, denn Bewegungen im Wasser sollten beschleunigen oder wenigstens zur geschmeidigen Richtungsänderung beitragen. Gelegentlich frisst er Tintenfische. Die sind auch lahm. Diese Viecher hier sind jedoch nicht mit Tintenfischen vergleichbar. Am merkwürdigsten sind die Luftblasen, die in regelmäßigen Abständen blubbernd hochsteigen. Eine Gefahr für sich kann der große Hai nicht erkennen. Er ist neugierig geworden, der noch lebende Wal ist ihm sicher, der kann warten. Der Weißspitzen-Hochseehai zieht seine Bahnen und Runden an den beiden Lebewesen vorbei. Wie zufällig rückt er Stück für Stück näher heran. Als er einmal in Reichweite kommt, berührt ihn sogar eine der Gestalten an der Schwanzflosse. Ist die lebensmüde?
Rudelbildung
Die ungewöhnliche Aktivität beim Schiff ist den Blauhaien nicht entgangen. Ebenso wie der andere Hai scheren sie aus ihren Runden um den sterbenden Wal aus und nehmen Kurs auf das Schiff. Was mag da vor sich gehen? Noch haben sie keine Vorstellung davon, was sie dort erwartet. Sie sind grundsätzlich neugierig. Da ist etwas Lebendiges im Wasser. Vielleicht eine Vorspeise? Das wollen sie herausfinden. Sie sehen den anderen Hai, der vor ihnen eingetroffen ist. Wenn eine größere Beute gerissen werden soll, schließen sie sich zusammen, dann fügen sich die unterschiedlichen Arten von Hochseehaien ineinander wie die Zahnräder eines Uhrwerks. In der Masse sind sie stärker. In dieser Formation greifen sie sogar Tiere an, die viel größer als sie selber sind. Die drei Hochseehaie wissen, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Sie haben Blut geleckt, sind erregt. Die Zweckgemeinschaft rückt noch näher an die Taucher heran.
Kaum sind Jacques-Yves Cousteau und Frédéric Dumas ein paar Meter abgetaucht, da sehen sie schon den ersten König der Meere. Es ist ein etwa drei Meter langer Weißspitzen-Hochseehai mit dem wissenschaftlichen Namen Carcharhinus longimanus . »Lange Hand« bedeutet longimanus . Scherzend wird der Hai von Cousteau und seiner Crew wegen der langen, runden Brustflossen »Langer Arm« genannt. Die grau-braune Färbung hebt sich markant von der blauen Farbfächerung des Meeres ab. Die Flossenspitzen sind weiß durchsetzt. Er ist ein großer, gedrungen wirkender Jäger der wärmeren Meeresregionen. Fasziniert verfolgen die Forscher seine eleganten Bewegungen. Ein einziger Schlag der Schwanzflosse lässt den Hochseehai wie ein Torpedo durchs Wasser gleiten. Jeder andere Taucher oder Schnorchler wäre zu Tode erschrocken.
Nicht so die beiden Franzosen. Die sind total begeistert. Ohne zu zögern, lassen sie die Leine los, die sie mit dem Schiff verbindet. Eilige Flossenschläge bringen sie näher an den Hai heran, der um sie kreist. Die Unterwasserkamera von Jacques-Yves Cousteau läuft. Jede Sekunde Film ist ihnen Gold wert, kann zu einer spannenden Geschichte über die Könige der Meere ausgebaut werden. Sie erwarten, dass der Hai abdreht und sich dem Wal zuwendet. Dabei bemerken sie nicht, dass sie sich allmählich vom Schiff entfernen.
Mehrfach begegneten Jacques-Yves Cousteau und seine Taucher auf ihrer Reise durch die Ozeane mit dem Forschungsschiff Calypso Weißen Haien. Sie waren verblüfft, dass sich die gefürchteten Raubtiere jedes Mal vor ihnen zurückzogen. Seitdem fühlen sie sich in Anwesenheit von Haien absolut sicher. Sie scherzen sogar über deren Feigheit. Ein Gefühl der Überlegenheit hat sich in der Crew von Jacques-Yves Cousteau breitgemacht. Sie haben jeden Respekt vor den Haifischen verloren, als hätten sie es mit Haifischzähnen aus Zuckerwatte zu tun. Grundsätzlich schwimmen sie
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